Dabei gewinnt das Thema in England rapide an Brisanz, denn immer mehr Jugendliche hinterfragen ihre Geschlechtsidentität. Die Beratungsstelle "Gender Identity Development Service" (GIDS), die Unterstützung für Jugendliche und Eltern anbietet, erlebt - wie es ein Mediziner im Guardian bezeichnete - "eine Explosion" an Nachfragen. Während es 2011 knapp 250 Überweisungen pro Jahr gab, waren es 2021 mehr als 5.000.
Unverstanden, verurteilt
Doch von den Medizinern fühlen sich die Jugendlichen oft missverstanden. „Mein Hausarzt“, erzählt eine Teenagerin, „hatte kein Problem mit dem Gender-Kram. Aber er war nur bereit, mir eine einzige Diagnose zu geben. Es ist, als ob sie nur meine Dysphorie (Störung des emotionalen Erlebens, Anm.) wahrgenommen hat und sich weigern würde, den Rest zu sehen.“ Doch Dysphorie käme oft mit anderen Diagnosen wie ADHS oder Autismus.
Immer wieder ging den Jugendlichen der Informationsstand nicht tief genug - gerade wenn es um die heikle Frage der Geschlechtsumwandlung ging. „Was sind die Vorteile? Die Nebenwirkungen? Die möglichen Nachteile? Was haben die Menschen, die den Prozess durchlaufen haben, darüber gedacht?“, listete ein Teenager auf.
Informationen rechtzeitig zu erhalten, scheiterte bei vielen schon an den langen Wartezeiten. Diese betragen mitunter sieben Jahren. Das könnte nicht der richtige Ansatz sein, meinte ein Mädchen: „Als ich 14 war, fand ich [Social Media-Influencer] auf YouTube und dachte mir: Oh meine Güte, ich bin ein Transmann! Ich muss Testosteron nehmen, ich muss mich oben operieren lassen, all diese Dinge tun.“ Zwei, drei Jahre war davon überzeugt. Doch schon nach 17 Sitzungen Beratungs-Klinik GIDS habe sie erkannt, dass Testosteron nichts für sie war.
Der Verlust der Eltern
Nicht nur die Jugendliche auch Eltern teilten in dem Bericht ihre Überforderung. Denn es fehle an Unterstützung: „Es kann schwer sein, sich mit der Tatsache abzufinden, dass man etwas verloren und etwas anderes gewonnen hat.“
In 32 Empfehlungen fordert Hilary Cass mehr Tiefe, mehr Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen, mehr holistische Ansätze.
Die Verabreichung von Hormonblockern bereitete ihr besondere Sorge: "Ausgehend von nur einer einzigen niederländischen Studie, die nahegelegt hat, dass Pubertätsblocker das psychische Wohlbefinden verbessern können, hat sich diese Praxis rasch in anderen Länder verbreitet."
Der NHS hat die Verabreichung dieser Medikamente nach ihrem Bericht nun eingestellt.
Unzureichende Forschung
Doch es müsse weiter geforscht, studiert, untersucht werden. Medikation sei derzeit ja binär, auf die zwei Geschlechter ausgelegt. Doch die am schnellsten wachsende Gruppe, die sich unter dem Dach der Transidentität identifiziert, sei nicht-binär. Dazu, meint Cassm wisse man noch so wenig: "Wir kennen weder den „Sweet Spot“, an dem sich jemand in seinem Selbstverständnis festsetzt, noch wissen wir, welche Menschen am ehesten von einer medizinischen Umwandlung profitieren.“
Aber vor allem brauche es Verständnis, denn die Giftigkeit der Debatte sei außergewöhnlich. Cass sei sowohl dafür kritisiert worden, sich mit jenen zu unterhalten, die für die Bejahung der Geschlechtsfrage eintreten. Aber genauso dafür, mit den Vertretern zu sprechen, die zu mehr Vorsicht mahnen.
"Wir müssen", meint sie abschließend, "den Lärm und die Polarisierung durchbrechen". Und anerkennen, "dass diese Kinder und Jugendlichen dieselben hochwertigen Betreuungsstandards benötigen, um ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, wie alle anderen".
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