Nicht empfehlenswert
Nach Schlaf, Schritten und Kalorien kontrollieren wir jetzt also auch den Blutzucker. Ist das sinnvoll? „Natürlich kann man auf den glykämischen Index von Lebensmitteln, also ihren Einfluss auf den Blutzuckerspiegel, achten“, sagte der Schweizer Stoffwechsel-Facharzt Bernd Schultes im Tagesanzeiger. Aber dass solche Konzepte zur nachhaltigen Gewichtsabnahme verhelfen, dafür gebe es keine wissenschaftlichen Belege.
Der Wiener Universitätsprofessor Thomas Stulnig, Facharzt für Innere Medizin, spricht sich sowohl für gesunde Ernährung im Allgemeinen als auch ein regelmäßiges Diabetes-Screening besonders für Risikopatienten aus. Eine ständige Überwachung des Blutzuckers gesunder Menschen kann er jedoch aus medizinischer Sicht nicht empfehlen. „Es braucht eigentlich keine App, um zu wissen, dass eine halbe Flasche Softdrink nicht ideal ist.“ Es gehe eher um einen gesunden Lebensstil; nicht darum, sich verrückt zu machen.
Doch genau das beobachtet Nicola Guess, Ernährungsberaterin und Forscherin an der Universität Oxford. Zunehmend würden sich besorgte Patienten an sie wenden. „Sie denken, dass etwas nicht stimmt, wenn ihr Blutzuckerspiegel nach dem Verzehr einer Banane in die Höhe schnellt“, sagte Guess in der Daily Mail, „und dass sie weniger Obst essen sollten. Das ist verrückt.“
Während also Glucose-Tracker für Diabetes-Erkrankte lebensnotwendig sind und Gesunde durch kurzzeitiges Tracken Erkenntnisse gewinnen können, kann eine langfristige Fixierung auf vermeintlich objektive Daten zur Gefahr werden. „Wir können den Bezug zu unserer Wahrnehmung verlieren“, warnt Psychotherapeutin Ines Gstrein vom Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie.
Zwang zur gesunden Ernährung
Immer mehr Menschen sind bereit, etwas für den „gesunden“ Lifestyle zu tun. Manchmal auch zu viel des Guten: Etwa wenn man völlig erschöpft ist und sich trotzdem zum Sport zwingt. Oder man Lust und Hunger auf ein Weckerl oder Spaghetti hat, sich das aber verbietet, um die scharfe Blutzuckerkurve zu vermeiden.
In seinem Buch „Ich habe es satt!“ (Suhrkamp) beschreibt Nils Binnberg den steinigen Weg aus der Orthorexie. Irgendwann aß er nur noch Brei, Räucherlachs, Eier, Avocado, Salat und Fleisch. Er ekelte sich vor allem, was nicht bio war. Er sagte Verabredungen ab, wenn die Speisekarte unpassend war.
Orthorexia nervosa bezeichnet den Zwang, sich ausschließlich gesund zu ernähren. Im Laufe der Zeit wird die Definition von „gesund“ dabei immer strenger, radikaler – und einschränkender. Woher kommt der Drang nach Kontrolle? „An sich“, so die Psychologin Gstrein, „ist Kontrolle – neben Bindung, Selbstwert und Lust – eine der vier psychologischen Grundbedürfnisse.“
In einer Welt voller Informationen, Konflikte und Zukunftssorgen, scheint das Essen eines der wenigen Dinge zu sein, die man kontrollieren kann. Doch wenn sich Glücksgefühl an Verzicht bindet, wird es problematisch. Nils Binnberg brauchte sieben Jahre, um sich Orthorexie einzugestehen und ein paar weitere, um sich eine neue Art des Essens zu erlauben.
Selbstwert hilft
Langfristig bräuchte es zweierlei, meint Gstrein: Medienkompetenz schon im Kindesalter. „Wir müssen lernen, dass die Versprechungen der digitalen Welt die Sehnsüchte nicht unbedingt erfüllen.“ Und: Wertschätzung und Liebe ohne Bedingungen. „Ein gesunder Selbstwert lässt sich nicht so leicht verführen.“
Ein Beispiel: Im Youtube-Video „50 People: 1 Question“ werden Menschen nach der einen Sache gefragt, die sie an ihrem Körper ändern würden. Nur eine, fragt eine Frau? Meine Stirn, sagt eine andere. Meine Ohren, sagt ein Mann. Dann kommen Kinder dran. Sie runzeln die Stirn, überlegen lang. „Vielleicht“, sagt ein Mädchen, „wären Flügel toll.“
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