Georgien: "Diese Wahl wird entscheiden, ob ich gehe oder bleibe"
Als Giorgi Rodionov vor 34 Jahren in Tiflis zur Welt kam, war Georgien noch Teil der Sowjetunion. An den Zerfall kann er sich nicht erinnern, dafür war er zu jung. Doch die Jahre danach, Szenen seiner Kindheit, haben sich ihm ins Gedächtnis eingebrannt: "Es herrschte extreme Armut. Wir hatten kein Gas, keinen Strom, kein fließendes Wasser. Manchmal gab es nicht mal Brot", erzählt er dem KURIER bei einem Treffen in Wien, wo er auf Einladung des Dialogbüros eine Diskussion moderierte.
Viele Menschen hätten ihre Sorgen in Alkohol und anderen Drogen zu ertränken versucht, auch seine Eltern. Seinen Vater habe er gehasst. Rodionovs Stimme ist monoton und er zuckt kurz mit den Schultern, als er das sagt. Er sei zuhause regelmäßig geschlagen worden.
Vom Gefahrenort zum "sicheren Hafen"
Zuhause, das war damals eine alte Wohnung etwas außerhalb des Tifliser Stadtzentrums. Nachdem die Eltern später ausgezogen waren, der Sohn war damals schon erwachsen und Künstler geworden, wandelte er die Immobilie in ein Studio für sich und andere um. Auch einen mit seinen eigenen Blutspuren übersäten Teppich von früher verarbeitete er dort zu Kunst. So habe er sich selbst geholfen, glaubt er heute.
Über die Jahre ist der für Rodionov einst so gefährliche Ort zu einer Art geschütztem Raum für politische Kunstschaffende aus dem In- und Ausland geworden. Neben Georgiern malen, fotografieren und performen im "Untitled Tiblisi" auch Ukrainer, Russen, Belarussen oder Aserbaidschaner. Thematisch fokussieren sie sich auf feministische und LGBTQ-Themen, was in ihren Herkunftsländern kaum möglich ist.
Nicht nur sein Studio, auch Tiflis selbst sei lange ein "sicherer Hafen" für die nicht-heterosexuelle Community in der Region, der auch Rodionov angehört, gewesen, sagt er.
Anti-LGBTQ-Gesetz
Das hat sich nun geändert. Vor ein paar Wochen hat das georgische Parlament ein Gesetzespaket auf den Weg gebracht, das nicht nur Rodionov und seinen Kollegen große Sorgen bereitet. Die Regierung will "LGBT-Propaganda" untersagen, indem demnach künftig gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht mehr in Schulen, Universitäten und Fernsehprogrammen gezeigt werden dürfen.
Nicht-heterosexuelle Paare sollen außerdem keine Kinder mehr adoptieren können, auch LGBTQ-Versammlungen wie die Pride-Parade möchte man nicht mehr erlauben. Gleichgeschlechtliche Ehen sind ohnehin schon per Verfassung verboten.
Massenproteste
Hinter alldem steckt einerseits die orthodoxe Kirche, deren Einfluss im Land nach wie vor groß ist. Das Gesetz ist aber auch ein weiteres deutliches Zeichen, dass die Regierungspartei "Georgischer Traum" das Land immer mehr wieder an Russland annähert und sich von der EU entfernt.
Zu wochenlangen Massenprotesten hat schon im Frühling das sogenannte "Agentengesetz" geführt. Demnach werden NGOs und Medien, die mehr als 20 Prozent ihres Geldes aus dem Ausland erhalten, als ausländische Spione gebrandmarkt.
"Die Regierung hat Angst"
"Ich glaube, die Regierung hat seit Russlands Angriff auf die Ukraine Angst", schätzt Rodionov diese Entwicklungen ein, "vielleicht auch, weil Georgien 2008 nicht sehr viel Unterstützung aus dem Westen bekommen hat." Russland griff Georgien damals an, es kam zu einem fünftägigen Krieg. Die Sorge, so etwas könnte wieder passieren, ist noch immer groß.
Der Kunstaktivist weiß nicht genau, was mit seinem Studio passiert, wenn das LGBTQ-Gesetz in die Umsetzung geht. Er rechnet aber mit dem Schlimmsten und überlegt, Tiflis zu verlassen. Für sein Studio sieht es ebenfalls nicht gut aus, wird seine dazugehörige Organisation wie viele andere in Georgien doch ebenfalls zu weit mehr als 20 Prozent aus dem Ausland finanziert.
Ausgerechnet der Liebe wegen hat Rodionov schon einen zweiten Wohnsitz in Berlin, der könnte schnell zum Hauptheim werden. Noch aber zieht er nicht fix um, er hat noch ein wenig Hoffnung: die Parlamentswahl, die Ende Oktober ansteht. "Das Ergebnis wird entscheiden, ob ich in Georgien bleibe oder gehe", sagt er. Viele in und außerhalb seiner Community, die sich das Wegziehen leisten können, würden das so sehen.
Referendum über Georgiens EU-Kurs?
Präsidentin Salome Surabischwili sagte, bei dem Urnengang handle es sich um ein Referendum über den EU-Kurs des Landes. Die georgisch-französische Politikerin hat es zwar einst mit Hilfe des "Georgischen Traums" ins Amt geschafft, sich in den vergangenen Jahren aber immer mehr mit der Regierung zerstritten. Sie versuchte sogar, das "Agentengesetz" mit einem Veto aufzuhalten.
Mit dem LGBTQ-Gesetz will die vom reichsten Mann Georgiens gegründete Partei nun pünktlich vor der Wahl vor allem bei konservativen Bevölkerungsgruppen punkten, glaubt die Opposition. Aktuelle Umfragen sehen den "Georgischen Traum" klar auf dem ersten Platz.
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