100 Jahre Sowjetunion: Wo die einstige Großmacht weiterlebt

100 Jahre Sowjetunion: Wo die einstige Großmacht weiterlebt
Heute vor genau 100 Jahren wurde die Sowjetunion gegründet. Trotz ihres Niedergangs 69 Jahre später bestimmt sie nach wie vor Putins Politik.

Russlands Präsident Wladimir Putin sieht sich selbst als Bewahrer der russischen Geschichte. Für seine politischen Entscheidungen spielt sie eine große Rolle, und legitimiert etwa den Angriff auf die Ukraine. Die heutige Ukraine sei von den Bolschewiki nach der Oktoberrevolution 1917 geschaffen worden, indem sie von Russland einen Teil seines Gebietes abgetrennt hätten, so Putin im Februar in der Rede zur Anerkennung der "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk als "unabhängige Staaten". Revolutionsführer Lenin habe den nichtrussischen Völkern des Imperiums "großzügige Geschenke" gemacht, indem er ihnen eigene Republiken gegeben und diesen auch noch das Recht auf Austritt aus der Sowjetunion zugestanden habe.

Putin hat Recht: Dieses Recht ist der letzte Punkt jenes Vertrags, mit dem die Sowjetunion vor 100 Jahren, am 30. Dezember 1922, aus vier formal gleichberechtigten Republiken gegründet wurde: den sozialistischen Sowjetrepubliken Russland, Ukraine, Belarus und Transkaukasien, in dem Georgien, Aserbaidschan und Armenien zusammengefasst waren. Die Grundzüge dieses Vertrags gingen tatsächlich auf Lenin zurück.

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Russische Kommunisten feiern in Moskau den 100. Jahrestag der bolschewistischen Revolution von 1917 im November 2017.

Doch Putins Behauptung, Lenin habe die Ukraine auf Kosten Russlands erschaffen, ist Geschichtsfälschung. In Wirklichkeit war die Schaffung der nationalen Teilrepubliken eine pragmatische Reaktion auf die Entwicklungen nach dem Sturz der Monarchie 1917. Bis Ende 1918 waren in allen einstigen westlichen und südlichen Randgebieten des Zarenreiches unabhängige Staaten ausgerufen worden: in Polen, dem Baltikum, Belarus, der Ukraine und dem Kaukasus.

"Die instabile internationale Lage und die Gefahr, dass es neue Angriffe geben könnte, machen die Gründung einer einheitlichen Front der sowjetischen Republiken mit Blick auf die kapitalistische Umgebung unentbehrlich", heißt es im Text der Deklaration, in der der Grundstein gelegt wurde für die Sowjetunion. Der – wie es später in der Hymne hieß – "unzerbrechlichen Union der freien Republiken, die die große Rus' für die Ewigkeit vereinte".

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Menschen warten in einer Schlange vor dem Mausoleum Lenins und Stalins auf dem Roten Platz in Moskau, 13. Januar 1954.  Chruschtschow ließ 1961 im Zuge der Entstalinisierung die Leiche Stalins aus dem Mausoleum entfernen und auf dem Ehrenfriedhof hinter dem Mausoleum (der sogenannten Nekropole an der Kremlmauer) begraben.

Dass sie am Ende doch zerbrach, war und ist für Putin "die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts".

Kampf der Ideologen

Wladimir Iljitsch Lenin, der starke Mann der Russischen Sowjetrepublik, war schwer krank und kaum noch handlungsfähig, als die Gründung der Sowjetunion vorbereitet wurde. Seine Vision war ein freiwilliger Zusammenschluss von Republiken, denen eine begrenzte Autonomie zugestanden werden sollte. Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Russlands, Joseph Wissarionowitsch Stalin, wollte dagegen den Anschluss dieser Länder an Russland, um alle Macht in Moskau zu konzentrieren.

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Eine Kopie vom Leichnam des Revolutionsführers Lenin. Der "echte" liegt heute in einem Mausoleum am Roten Platz in Moskau begraben.

Stalin konnte sich nicht offen gegen die Autorität des Parteiführers stellen, aber er konnte doch viele seiner Vorstellungen durchsetzen. Der Gründungsvertrag der Sowjetunion gab der Moskauer Zentralmacht große Kompetenzen. Die hatte sie de facto freilich schon vorher. Obwohl die Sowjetrepubliken bis Ende 1922 formell nur durch bilaterale Verträge verbunden waren, wurden die wichtigen Entscheidungen in Moskau getroffen. Denn wichtiger als der Staatsaufbau war die zentralistische Struktur der Kommunistischen Partei.

Die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion folgte nach Lenins Tod 1924 noch einige Jahre dessen Vorstellungen. Der Anteil der nichtrussischen Völker im Parteiapparat wurde gezielt erhöht, Sprachen und Kulturen der nichtrussischen Völker wurden gefördert.

"Schlimmster Fehler"

Lenins Nationalitätenpolitik sei für das Schicksal Russlands "viel schlimmer als ein Fehler" gewesen, sagte Putin im Fe­bruar. Stalins Vorstellungen dagegen lobte er, bedauerte aber, dass dieser die unter seiner Herrschaft schon leere Fassade des Föderalismus nicht ganz abgeschafft hatte. Diese Darstellung des Gegensatzes zwischen Lenin und Stalin ist wichtig für das Verständnis von Putins Geschichtsbild: Die von Lenin geführte Revolution von 1917 war aus seiner Sicht eine Katastrophe, weil sie das alte russische Imperium zerstörte, in der von Stalin seit Mitte der Zwanzigerjahre immer straffer geführten Sowjetunion sieht er dessen Wiederherstellung.

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Putin und seine "Ringträger" beim Treffen der Staats- und Regierungschefs der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten.

Im Kreml wird man nicht müde, zu betonen, dass es nicht um eine Neuauflage der Sowjetunion gehe, die sich im Dezember 1991 endgültig von der großen Bühne verabschiedet hat.

Der Traum aber von früherer Größe ist trotzdem nicht ausgeträumt. Möglichst viele der früheren Sowjetrepubliken eng an sich zu binden, bleibt das Ziel. Als wolle er das unterstreichen, schenkte Putin den Staats- und Regierungschefs der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, die sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR gebildet hatte, beim jüngsten informellen Treffen in Sankt Petersburg goldene Ringe. Die einen sahen das als Zeichen für einen Bund fürs Leben, die anderen fühlten sich an Tolkiens Fantasy-Trilogie "Herr der Ringe" erinnert, in der die Ringträger zwar mächtig, aber zu willenlosen Dienern werden.

Ganz tot ist die Sowjetunion aber nicht. Ihre Hinterlassenschaft sind zahlreiche Konfliktherde in Ex-Sowjet-Gebieten wie dem Süd­kaukasus. Und zumindest im Internet existiert sie weiter: Bis heute ist dem Land die länderspezifische Domain mit dem Kürzel .su reserviert. Im Oktober 2012 sollen knapp 110.000 .su-Domains registriert gewesen sein, monatlich kommen laut einer Statistik von Russian Domains etwa 2.500 Adressen hinzu.

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