Tatsache ist jedenfalls: Sowjet-Regisseure, die Szenen aus Westeuropa brauchen, drehen ihre Filme ausschließlich in baltischen Städten, deren alte Fassaden intakt sind.
Individualtouristen sind den sowjetischen Machthabern nicht willkommen. Für sie gibt es de facto keine Infrastruktur. Die Restaurants sind nur auf angekündigte Reisegruppen eingestellt. Bei Inlandsflügen müssen Passagiere ihre Koffer manchmal selbst in den Frachtraum schleppen. Für Westler sind nur wenige Routen erlaubt, die Liste der verbotene Orte und Gebiete hingegen ist sehr lang. Für Ausländer ist die Einreise mit dem Auto nur an einem Dutzend Grenzübergänge gestattet. Dabei ist die Grenze des Riesenreiches von Norwegen bis Nordkorea 19.025 Kilometer lang. Auf dem Luftweg ist Moskau das einzige Eintrittstor, denn im ganzen europäischen Teil der Sowjetunion gibt es nur diesen einen internationalen Flughafen.
Um im November 1990 überhaupt nach Estland zu gelangen, müssen wir uns in die Obhut des staatlichen Reiseveranstalters Intourist begeben. Die Grenz- und Zollformalitäten ziehen sich endlos lange hin. Angesichts der in der Kleidung versteckten Rubel sind auch die Nerven angespannt.
Von Moskau fliegen wir wieder fast 1.000 Kilometer zurück nach Tallinn. Die estnische Metropole wirkt unter allen Städten der UdSSR am wenigsten „sowjetisch“. Da die Balten erst 1940 unter die Knute der sowjetischen Diktatur des Proletariats geraten sind, dauert der Kommunismus nicht so lange.
Auch die zwei Jahre zuvor von Michail Gorbatschow ausgerufene Perestroika funktioniert hier besser als etwa in Russland oder der Ukraine. Die Inhaber „kooperativer Betriebe“ ohne Angestellte dürfen Cafés, Reparaturwerkstätten oder Taxis betreiben. Das Wohlstandsgefälle ist auffallend: Von einem Warenangebot wie in Tallinn oder Vilnius wagt man in Russland sonst nicht einmal zu träumen.
Die uns aufgezwungene russische Reiseleiterin, die auf die Wiener aufpassen sollte, verschwindet schnell in diversen Geschäften, um zu hamstern.
Ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Esten sind die Finnen, mit denen sie sich ohne Dolmetscher unterhalten können. Die sprachverwandten Nachbarn sind auch die ersten ausländischen Investoren. Viele Finnen kommen per Schiff als Touristen. Ein 48-Stunden-Visum können sie an Bord erwerben. Die Überfahrt von Helsinki nach Tallinn dauert gerade einmal zwei Stunden. An Bord ist Alkohol zollfrei zu haben. Da Wodka auch in Estland sehr billig ist, verbringen viele Finnen die Zeit ausschließlich an der Bar. Auch einige würdige ältere Damen fallen durch ihre heftige Schlagseite auf.
Um die baltischen Länder besser kennenzulernen, beschließen wir, die im Voraus bezahlten Flugtickets verfallen zu lassen und die Reise per Taxi fortzusetzen. Die Intourist-Reiseleiterin weiß nicht, wie sie reagieren soll, lässt uns dann aber ziehen. Schließlich weht nach dem Mauerfall in Berlin und den Regimewechseln in Osteuropa auch im Baltikum ein leichtes Freiheitslüftchen.
In diesem Wind des Wandels wehen an so manchen Privathäusern alte Fahnen aus der Vor-Sowjet-Ära, was offiziell streng verboten ist. Unterwegs bekommen wir Hunger und halten an einem Restaurant an. Die Eingangstür ist versperrt, dahinter hören wir aber deutlich Gemurmel und Essensgeräusche. Wir klopfen an, bis uns ein Kellner aufmacht: „Es ist Mittagszeit, wir essen gerade“, erklärt der Mann und schlägt uns die Türe vor der Nase wieder zu. Ein anschauliches Beispiel für die Null-Motivation der Mitarbeiter staatlicher Betriebe. Trinkgelder sind nicht üblich und werden manchmal sogar als Beleidigung empfunden.
Bei der Fahrt über Land stechen uns die verwahrlosten Felder der Kolchosen ins Auge. Sie bilden einen harten Kontrast zu den kleinen, vorbildlich gepflegten Schrebergärten. Die Schattenwirtschaft floriert. Wir könnten alle unsere mitgeführten Gegenstände jederzeit verkaufen. In Riga essen wir zu sechst gut und reichlich im Tausch für einen Schal. Unterwegs sehen wir auch auffallend viele sowjetische Soldaten. In ihren Kasernen proben sie für die Parade zum 73. Jahrestag der Oktoberrevolution. Auch sie versuchen ihren Sold aufzubessern, indem sie uns Teile ihrer Uniformen zum Kauf anbieten.
Am Jubiläumstag, dem 7. November, sind wir in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg. Die Militärparade der Marine findet auf dem Newafluss statt. Alle Brücken sind hochgezogen, die Kriegsflotte inklusive der U-Boote liegt sauber aufgereiht, die Besatzungen stehen stramm. Der Admiral, der die Einheiten in einem Motorboot abfährt, strahlt mit vielen goldenen Orden auf der Brust trotz des Nebels.
Die Marine-Stützpunkte am Finnischen Meerbusen sind für das sowjetische Militär von außerordentlicher strategischer Bedeutung. Ohne dass wir es ahnen, wohnen wir der letzten Parade der Sowjetunion bei.
Es sind die Litauer, die sich als Erste gegen die territoriale Einheit der Sowjetunion erhoben. Am 11. März 1990 riefen sie ihre Souveränität aus. Die beiden anderen baltischen Republiken folgen rasch: Estland, Lettland und Litauen streichen die Bezeichnung „Sozialistische Sowjetrepublik“ aus ihren Staatsnamen. Eine einseitige Erklärung. Es vergehen noch fast eineinhalb bange Jahre, bis der Kreml die Unabhängigkeit der drei Republiken anerkennt. Am 31. 12. 1991 wird dann auch am Kreml die Fahne der UdSSR eingezogen.
Kommentare