Hat Russland etwas mit der Flugzeugentführung nach Minsk zu tun?
Schüsse auf Demonstranten, willkürliche Festnahmen, Folter, harte Urteile und nun ein gekapertes Passagierflugzeug: Seit seiner gefälschten Wiederwahl im August hat der weißrussische Machthaber Alexander Lukaschenko nichts unversucht gelassen, die Protestbewegung in seinem Land mundtot zu machen. Mit Erfolg: Forderten zu Beginn des Aufstandes regelmäßig Hunderttausende Menschen Demokratie, gingen zuletzt nur noch wenige auf die Straßen.
Über ihre Aktionen wurde im Ausland kaum mehr berichtet; ebenso wie über Dutzende Urteile, die allein in den letzten Wochen gegen Oppositionsanhänger verhängt wurden. Erst am Dienstag wurden sieben Personen zu mehrjähriger Haft verurteilt – unter anderem wegen Organisation und Teilnahme an „Massenunruhen“.
"Machtdemonstration"
Dass das Regime in Minsk einen Ryanair-Flug zwischen den EU-Städten Athen und Vilnius wegen einer angeblichen Bombendrohung zur Landung zwingen würde, um den oppositionellen Blogger Roman Protassewitsch und seine Lebensgefährtin zu verhaften, kam aber auch für Beobachter überraschend.
Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck spricht gegenüber dem KURIER von einer „sehr undurchdachten“ und „erratischen“ Aktion, einer Machtdemonstration, deren Nutzen und Kosten in keinem Verhältnis stünden.
"Die Straße verloren"
„Belarus hätte sich denken müssen, dass die Sanktionen sehr hart ausfallen“, sagt der Experte mit Blick auf die Montagabend verhängten Flugverbote und Sanktionen der EU.
Zudem habe es in Weißrussland bereits seit Monaten keine Massenaufmärsche mehr gegeben.
Selbst die in Litauen lebende Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja hatte bereits im Jänner eingeräumt, dass man „die Straße vorerst verloren habe“. Die Regierung habe die Waffen und die Macht.
Den vielfach geäußerten Vermutungen, der russische Präsident Wladimir Putin müsse in die Umleitung des Flugzeuges mit Protassewitsch an Bord involviert gewesen sein oder dieser zumindest sein Okay gegeben haben, schließt sich Mangott nicht an. „Ich wäre sehr vorsichtig mit einer solchen Aussage“, sagt er.
Weißrussland habe zwar eine integrierte Luftraumüberwachung mit Russland, verfüge aber über eine eigene, schlagkräftige Luftwaffe und sei durchaus in der Lage, eine derartige Aktion allein durchzuführen.
„Viele in der EU und in den USA, die Russland grundsätzlich kritisch gegenüber stehen, stricken nun das Narrativ, dass Weißrussland diesen Schritt nicht ohne Russland gekonnt und ihn sich nicht getraut hätte“, so Mangott. Was aber beides nicht zutreffe.
Die Regierung in Moskau selbst dementierte am Dienstag jegliche Verwicklung in den Fall. Alle Behauptungen, Russland habe etwas damit zu tun, seien es nicht wert, darauf zu reagieren, sagte ein Sprecher.
"Rückversicherung"
Die Unterstützung Russlands sei auch nicht allein ausschlaggebend gewesen, dass sich Lukaschenko trotz der Massenproteste im Sattel halten konnte. „Die Unterstützung war eine Rückversicherung für die politischen Eliten in Belarus, dass es nicht zu einem Sturz durch die Straße kommen würde. Die Niederschlagung der Proteste hat Belarus aber alleine durchgeführt“, sagt Mangott.
Ohne russische Finanzhilfen, etwa in Form von Krediten, wäre Belarus allerdings in erheblichen wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten, was der Stimmung im Land schaden würde.
"Als nächstes an der Reihe"
Bei den verbleibenden Oppositionellen aus „Europas letzter Diktatur“ herrscht nach Protassewitschs Verhaftung jedenfalls Angst.
„Sie schreiben mir, dass wir als nächstes an der Reihe sind, dass man uns nicht nach Belarus entführen, sondern in Warschau erschießen wird“, berichtete der Blogger Stepan Putilo, einst enger Mitstreiter des verhafteten Roman Protassewitsch, der polnischen Zeitung Rzeczpospolita von jüngsten Drohungen.
Bereits vor den Präsidentschaftswahlen im August waren mehrere Regimekritiker, die gegen Lukaschenko antreten wollten, inhaftiert oder von Wahllisten gestrichen worden. In einigen Fällen übernahmen Ehefrauen bzw. Mitarbeiterinnen das Ruder – Swetlana Tichanowskaja etwa sprang für ihren Mann ein.
Die heute 38-Jährige, die schnell große Popularität errang, gilt als wahre Gewinnerin der Präsidentenwahl; zwei Tage nach dem Urnengang musste sie Weißrussland allerdings verlassen und lebt seither – wie viele andere Oppositionelle – in Litauen.
Maria Kolesnikowa, 39 Jahre und wie Tichanowskaja eine Führungsfigur der Opposition, wurde im September in Minsk verschleppt und später unter dubiosen Umständen an der ukrainischen Grenze verhaftet. Seither ist sie in U-Haft.
Das letzte noch unbehelligte Führungsmitglied des oppositionellen „Koordinierungsrates“, dem auch Tichanowskaja und Kolesnikowa angehören, ist Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Sie hält sich seit September in Deutschland auf.
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