Fünf Jahre Arabischer Frühling - alles schlimmer als davor?
Was ist erreicht worden, fünf Jahre nach dem "Arabischen Frühling" 2011? Mittelfristig ist einerseits vor allem eines offensichtlich: eine erhebliche Destabilisierung der Region. In Syrien sind von rund 20 Millionen Einwohnern mehr als 200.000 gestorben, vier Millionen sind auf der Flucht, neun Millionen vertrieben im eigenen Land. Im Jemen sterben bei einem Stellvertreterkrieg zwischen Iran und Saudi-Arabien täglich dutzende Menschen durch Luftangriffe. In Libyen ringen Milizen, Stämme und Gruppierungen um Einfluss. Die Sicherheitslage hat sich erheblich verschlechtert, die Terrormiliz IS festgesetzt.
In Ägypten scheint sich der Präsident al-Sisi, der durch einen Militärputsch gegen den gewählten konservativ muslimischen Präsidenten an die Macht gekommen ist, erneut eine zumindest teilweise autoritäre Herrschaft einzurichten. Das einzige Land, das nach dem erfolgreichen Sturz des Präsidenten noch auf dem Weg zu einer wirklichen Demokratie ist, ist das Land, in dem alles begann. Tunesien.
Tunesien
InTunesien ist fünf Jahre nach der Jasmin Revolution der Transformationsprozess im Gange. Nach der Flucht des Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali nach Saudi-Arabien am 14. Jänner 2011 wurde dieser Prozess eingeleitet. Es gab Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung, die 2014 eine Verfassung vorstellte, die – trotz Mehrheit der konservativ islamischen Ennadha-Partei – keinen Verweis auf die Sharia beinhaltet. Danach wurden Parlament und Präsident gewählt. Tunesien hat zumindest anscheinend einen Konsens geschafft zwischen säkularem und politischem Islam. Dafür hat das „Quartett für den Nationalen Dialog“, bestehend aus Gewerkschaftsverband (UGTT), dem Arbeitgeberverband (UTICA), der Menschenrechtsliga (LTDH) und der Anwaltskammer, das die Vermittlerrolle übernommen hatte, den Friedensnobelpreis bekommen. Seit Februar 2015 ist die neue Regierung im Amt, die von der liberalen Partei Nidaa Tounes geführt wird. Sie koaliert mit der konservativ muslimischen Ennahdha, die unter Ben Ali verboten war. Zumindest auf den ersten Blick scheint politische Vielfalt heute möglich, im Gegensatz zu der Zeit Ben Alis. Allerdings sind viele Mitglieder der Nidaa Tounes ehemalige Mitglieder der Ben Ali Partei RCD. Das sehen vor allem die Jungen nicht gerne, die gegen das System 2011 auf die Straße gegangen waren.
Schwere Krise
Wirtschaftlich befindet sich das Land spätestens seit der Revolution in einer schweren Krise. Die Produktion ist immer noch rückläufig, die drei Terroranschläge des Vorjahres (Bardo Museum, Strand von Sousse, Tunis Präsidentengarde) verschreckten Investoren, aber vor allem Touristen. Die Arbeitslosigkeit ist bei über 15 Prozent. Jobs gibt es fast nur im öffentlichen Sektor und dafür braucht es Aufträge. Tunis stützt sich auf Kredite, seine Schulden steigen und der Wert des Dinar fällt. Im Landesinneren begannen rund um den fünften Jahrestag der Revolution Unruhen, die von arbeitslosen Jugendlichen begonnen wurden. Nach fünf Jahren wollen sie endlich einen Aufschwung sehen. Die Behörden handeln in ihren Augen willkürlich.
Die wirtschaftlichen Aussichten sind düster. Dennoch war für viele die Revolution unbedingt notwendig. Die Zivilgesellschaft hat an Stärke gewonnen, es gibt jetzt freie, faire Wahlen, weniger Korruption, mehr Transparenz. Und es gibt weniger Tabus. Man kann über Polizeigewalt reden (die es immer noch gibt). Das war in der Ära Ben Ali beinahe unmöglich.
Und es gibt kleine Fortschritte, was etwa Homosexuellen-Rechte angeht.
Ägypten
Im Millionenland am Nil wurde der Arabische Frühling zum Massenphänomen. Die Proteste begannen am 25. Jänner, also genau vor fünf Jahren. Innerhalb von zwei Wochen gingen mehrere Millionen Menschen auf die Straße. Der Tahrir-Platz wird zum Symbol für Befreiung. Zig Millionen Menschen sind via TV live dabei, als der Rücktritt von Langzeitpräsident Hosni Mubarak verkündet wird. Die säkulare Protestbewegung bekommt - auch dank Facebook und Twitter - enorm viel Sympathien aus dem Westen. Konservative Muslime (vor allem die Muslimbrüder) schließen sich den Protesten an, sie waren unter Mubarak unterdrückt, ihre Partei verboten.
Kampf gegen Terror
Die Muslimbrüder gewinnen die Wahlen, Mohammed Mursi aus ihren Reihen gewinnt die Präsidentenwahl. Die Politik streitet um eine neue Verfassung, das riesige Land stürzt ins Chaos. Als endlich eine - islamistisch geprägte - Verfassung fertig ist, schasst der Oberste Militärrat Präsident Mursi aus seinem Amt. Er überarbeitet die Verfassung. Der neue Präsident heißt Abdel Fattah al-Sisi. Mursi droht die Todesstrafe. Die Wirtschaft des Landes befindet sich in der Krise. Die Sisi-Führung versucht, mit Mega-Projekten wie dem Bau einer neuen Millionenstadt und dem Ausbau des Suez-Kanals die Wirtschaft anzukurbeln und der Bevölkerung Beschäftigung zu geben. Sie führt einen erbarmungslosen Kampf gegen den Terror an allen Fronten, vor allem massive Angriffe auf der Sinai-Halbinsel, wo Extremisten sich niedergelassen haben. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Syrien
Als in Tunesien und Ägypten das Volk den jeweiligen Langzeitherrscher gestürzt hatte, gingen auch Syrer auf die Straße, um gegen Bashar al-Assad, sein System und fehlende Wirtschaftsreformen zu demonstrieren. Seit 1963 hatte in Syrien die Baath-Partei regiert, vor Bashar war dessen Vater Präsident, die Familie und Günstlinge teilten sich Reichtum und Einfluss auf. Eine Demokratie war Syrien nur auf dem Papier. Oppositionsparteien gab es nicht. Schon in den ersten Tagen zeigte sich, wie hart das Regime gegen die friedlichen Demonstranten vorgehen würde. In der Stadt Deraa wurde eine Gruppe von Schülern verhaftet, weil sie „Sturz des Regimes“ an die Wand geschmiert hatten. Die Proteste werden größer - Sicherheitskräfte schossen mit scharfer Munition, die Revolution sollte im Keim erstickt werden. Menschen verschwinden, werden verhaftet, gefoltert, getötet. Die Regierung kündigt Reformen und Wahlen an, doch die Reformen lassen auf sich warten, die Wahlen werden - wieder einmal - zur Farce.
Die immer gewalttätigere Antwort des Regimes und seiner Armee auf die Proteste bringt viele Soldaten dazu, sich abzusetzen und die „Freie Syrische Armee“ zu gründen, die gegen das Regime kämpft. Doch die Einheit der Bevölkerung im Kampf gegen Assad hält nicht lange. Die Widerstandsbewegung wird zu einem großen Teil von sunnitischen Arabern getragen. Religiöse Minderheiten oder säkulare Syrer fürchten einen wachsenden Einfluss religiöser Kräfte, sollte das Regime fallen. Die Opposition zersplittert sich in mehrere hundert Untergruppen, unterstützt aus dem Ausland. Viele der Gruppen sind islamistisch geprägt, etwa die Al-Nusra-Front. Die Situation verschlimmert sich von Monat zu Monat. Als dem Assad-Regime der Einsatz von Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung nachgewiesen wird, wird der internationale Ruf einer militärischen Intervention laut. Doch der UN-Sicherheitsrat kann sich nicht einstimmig darauf einigen - Russland und China stemmen sich gegen einen Einsatz.
Flüchtlingswelle
Der Bürgerkrieg in Syrien geht weiter und der IS kann sich 2014 unter der Führung von Omar al-Schischani von Irak aus in Syrien ausbreiten. Vermittlungsversuche zwischen IS und Rebellen bleiben ohne Resultat. Vor allem die Kurden im Norden des Landes halten den IS in Schach. Doch der IS kann sich in Syrien und dem Irak ausbreiten und die kleine Islamisten-Armee gewinnt durch Propagandaaktionen und Tötungsvideos immer mehr an Zulauf.
Ende 2014 fliegen die USA ihre ersten Luftangriffe. Russland beginnt im Sommer 2015 seine Militäraktion, die vor allem Assad schützen soll. der russischen Regierung wird vorgeworfen, ihre Angriffen vor allem gegen gemäßigte Rebellen zu richten. Im Herbst beginnen auch Großbritannien und Frankreich ihre Luftangriffe, um den IS zu bekämpfen.
Bis dato starben im Bürgerkrieg in Syrien rund 300.000 Menschen. Der Krieg hat um die 12 Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieben. 7,6 Millionen sind in Syrien Vertriebene, rund vier Millionen flohen ins Ausland. Davon 1,8 in die Türkei, 1,1 in den Libanon (der nur 4,5 Millionen Einwohner hat), 600.000 nach Jordanien. Knapp eine Million Syrer kamen nach Europa. Fast fünf Millionen Syrer wohnen weiterhin in Kampfzonen.
Libyen
Aufstände gegen den manischen Langzeitherrscher Muammar Gaddafi entwickelten sich im Laufe des Jahres 2011 zum Bürgerkrieg. Die monatelange Suche nach dem untergetauchten Despoten und seiner Familie endet - unterstützt durch NATO-Bombardements - mit dem Mord an Muammar Gaddafi im Oktober 2011 und der Festnahme seines Sohnes Saif al Islam. Danach stürzt das Land ins Chaos. Die hunderten bewaffneten Gruppen, die ein gemeinsames Ziel hatten, Gaddafis Sturz nämlich, richten sich nun gegeneinander und liefern sich einen erbitterten Kampf um Einflussgebiete. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Kämpfen, Angehörige werden ebenso entführt wie Politiker oder Ausländer, um Lösegeld oder andere Dinge zu erpressen. Eine Entwaffnung der Milizen und die Eingliederung in einen gemeinsamen nationalen Sicherheitsapparat geht gewaltig daneben. Im Gegenteil: Die Milizen nutzen die ihnen von der Regierung gewährten finanziellen Mittel, um weiter ihre Agenden durchzubringen.
Politisch scheint zunächst etwas weiterzugehen, 2012 findet eine freie Wahl zu einem Interimsparlament statt, die die säkulare Allianz ANK gewinnt. Dennoch schaffen es die Islamisten, eine Mehrheit im Parlament zusammenzubekommen, wodurch eine islamistisch geprägte Regierung entsteht. Das Land stürzt tiefer ins Chaos, weil es der Milizen nicht Herr wird. Da taucht im Frühling 2014 der frühere General Kalifa Haftar auf und stellt eine eigene Armee zusammen („Operation Karama“ - Würde). Sie versucht einen Militärputsch gegen die Regierung in Tripolis. Und scheitert. Gewinnt aber wenig später die Parlamentswahl.
Machtvakuum
Die neue gewählte Regierung muss aber wenig später aus der Hauptstadt Tripolis nach Tobruk fliehen, weil sich die Islamisten mit ihrer „Operation Morgenröte“ wieder an die Macht putschen. Die beiden Regierungen konkurrieren seither. In dem Machtvakuum macht sich die Terrormiliz Islamischer Staat im Land breit. Nicht zuletzt deshalb sahen beiden Regierungen Bedarf, sich zu einigen - unterstützt vor allem durch Italien, das nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen Interesse an einem stabilen Libyen hat. Jetzt soll eine Einheitsregierung installiert werden.
Das Pro-Kopf-Einkommen in Libyen ist eines der höchsten im arabischen Raum, dennoch liegt die Wirtschaft wegen der verheerenden Sicherheitslage im Argen. Zudem begünstigt die chaotische Sicherheitslage das Schleppergeschäft, was die Flüchtlingskrise noch verschärft. Nicht nur, was die Zahlen angeht - Flüchtlinge, die über Libyen nach Europa kommen, berichten von Horror-Erlebnissen. Sie werden eingesperrt, versklavt, vergewaltigt, beraubt, manche verschwinden.
Jemen
Präsident Ali Abdullah Saleh, der seit 1990 im Amt war, sieht sich Anfang 2011 im Zuge des „Arabischen Frühlings“ ebenfalls mit Protesten konfrontiert. Trotz Rücktrittsankündigung ruft er Neuwahlen im selben Jahr aus, bei denen er seine Macht zementieren will. Bei einem Raketenangriff wird er schwer verletzt, sein Vize Abed Rabbo Mansur Hadi vertritt ihn. Nach seiner Rückkehr im Oktober ruft der UN-Sicherheitsrat Saleh einstimmig zu einer geregelten Machtübergabe auf. Er übergibt an Hadi.
Die Huthis, deren Bewegung lang wirtschaftlich marginalisiert war, nutzen das politische Vakuum rund um den Präsidentenwechsel. Huthi-Rebellen begannen sich vom Norden des Landes weg auszubreiten bis es ihnen sogar gelang, die Hauptstadt Sanaa zu besetzen. Präsident Hadi rettete sich zunächst in die südliche Hafenstadt Aden, und als ihm die Huthis folgten, nach Saudi Arabien. Dort rief er die Golfstaaten um Hilfe gegen die Rebellen.
Stellvertreterkrieg
Seit März fliegt eine von Saudi Arabien angeführte Allianz aus mehreren Staaten, darunter Bahrain, Kuwait, Katar und die Vereingten Arabischen Emirate Luftangriffe im Jemen. Diese wurden vielfach kritisiert, vor allem von Amnesty International, weil ein Großteil der Opfer Zivilisten sein sollen. International gilt es als erwiesen, dass Saudi-Arabien im Jemen einen Stellvertreterkrieg gegen den Iran führt, die Schutzmacht der Huthis. Ziel ist es, den Einfluss im Jemen nicht an den regionalen Erzfeind abgeben zu müssen. Dafür mussten rund 3000 Zivilisten sterben, um die 2,5 Millionen Menschen sind Binnenflüchtlinge, 170.000 sind ins Ausland geflohen.
Kommentare