EU-Außengrenze zu Serbien: Wo der Weg in die Freiheit endet
„Sie sind Monster“, sagt Ghais und zündet sich eine Zigarette an. „Sie schlagen, treten, beschimpfen uns“, erzählt der 22-jährige Syrer und meint die ungarischen „Grenzjäger“, die ihn bisher noch nicht erwischt haben. Einem Freund von ihm hätten sie die Zähne ausgeschlagen: „Der kann jetzt nicht mehr sprechen.“ So wolle er nicht enden, sagt Ghais.
Der junge Mann hat seine Heimatstadt Damaskus vor sieben Monaten verlassen. Nach dem Pflichtschulabschluss hat er im Geschäft seines Vaters gearbeitet und sich nebenbei im Fitnessstudio regelmäßig auf die Reise nach Europa vorbereitet. Als die Preise in die Höhe schossen, entschied er zu gehen.
Während er das erzählt, sitzt er auf einer kleinen Holzbank, mitten auf dem Hauptplatz des serbischen Städtchens Sombor an der ungarischen Grenze. Neben sich hat er einen roten „Super Mario“-Kinderrucksack, den er kaum aus den Augen lässt. „Den habe ich mir da vorne gekauft“, sagt er in gutem Englisch und deutet auf einen chinesischen Billigladen um die Ecke. Seinen alten habe er kürzlich verloren, als er vor der ungarischen Polizei geflüchtet sei.
Ghais krempelt seine schwarze Lederjacke etwas hoch. Er möchte seine Hände zeigen – sie sind mit Narben übersät. Denn die sogenannten „Grenzjäger“ hätten ihn zwar nicht gekriegt, an den gut vier Meter hohen Zaun zwischen Serbien und Ungarn hat er sich aber schon dreimal gewagt. „Jedes Mal haben sie mich zurückgeschickt“, erzählt er. Nicht alle Polizisten an der Grenze seien gewalttätig, mit einem habe er sogar zusammen geraucht, bevor er sich auf den Weg zurück ins Stadtinnere machte.
"Systematische Folter"
Doch auch andere Quellen berichten von Gewalt an dieser Grenze. „Wir sehen Formen systematischer Folter“, sagt etwa der Helfer Nico. Er arbeitet für die Organisation MVI, die Menschen nach Gewalterfahrungen überall an der Grenze zu helfen versucht. Häufig seien Zeichen von Schlagstock-Schlägen, auch Stromkabel würden eingesetzt. „Wie uns die Leute erzählen, gehen die Grenzbeamten die Sachen der Flüchtlinge durch und setzen sie ,kreativ’ ein“, erzählt Nico weiter.
Einmal hätten sie eine Sardinenbüchse im Rucksack eines Migranten gefunden. Ungarische Beamte hätten ihm befohlen, die Sardinen in wenigen Sekunden zu essen, habe der Mann später erzählt. „Weil er es nicht geschafft hat, haben sie ihn getreten, den Restinhalt der Büchse in den Dreck geworfen und ihm befohlen, das zu essen“, gibt Nico die Erzählung des Migranten wieder. Dann hätten sie ihm das Sardinenöl über den Kopf geleert. Es ist nur eins von vielen Beispielen.
Die Gewalt an den EU-Außengrenzen hält nach wie vor nicht davon ab, den Übertritt in die EU zu versuchen. Die westlichen Balkanländer sind die derzeit am stärksten frequentierte Route dafür. Nach offiziellen Angaben war die Zahl an Flüchtlingen zwischen Jänner und Juni hier fast dreimal so hoch wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres – allein im Juni dokumentierte Frontex mehr als 14.000 illegale Grenzübertritte, die meisten davon aus Syrien, Afghanistan und der Türkei. In Sombor halten sich Schätzungen zufolge aktuell um die 1.500 auf.
Mit dieser steigenden Zahl dürfte sich auch die Gewalt an der Grenze noch einmal intensiviert haben. Laut dem BVMN, einem Zusammenschluss mehrer NGOs, ist hier ein deutlicher Trend zu schwereren Verletzungen zu beobachten. Zusätzlich zu Brüchen, Verrenkungen und Hämatomen gibt es zahlreiche Berichte über erniedrigende Behandlungen, etwa rassistische Beleidigungen durch Grenzbeamte.
Orbans „Grenzjäger“
Das berüchtigte „Grenzjäger“-Regiment wurde vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban im September 2022 aufgrund des „wachsenden Migrationsdrucks“ ins Leben gerufen. Auch andere EU-Länder, darunter Österreich, unterstützen die Grenzschutz-Einheit. Nach Angaben des Innenministeriums sind bis zu 70 österreichische Polizisten an der Grenze zu Serbien stationiert. Dass diese gewaltsam mit Migranten umgehen, wie mehrere Quellen vor Ort behaupten, wird auf Nachfrage dementiert.
Der junge Syrer Ghais versteht, warum er nicht über die Grenze darf. Er berichtet von Kriminellen, denen er bereits begegnet ist. „Ich versuche ja selbst, mich von meinen eigenen Landsmännern fernzuhalten“, sagt er. Um nicht in etwas verwickelt zu werden und aufgrund der schlechten Hygienestandards meidet er das überfüllte Flüchtlingslager in Sombor und versucht seit über fünf Wochen, es allein über die Grenze zu schaffen.
Für 3.000 Euro über die Grenze
Weil er damit nicht erfolgreich war, überlegt er aber, sich nun an Schlepper zu wenden. „Wenn du ihnen 3.000 Euro zahlst, stellen sie dir eine Leiter auf und du kommst leicht über den Zaun“, glaubt er. Auf der anderen Seite würde dann ein Auto warten. Er wolle die Schlepper nicht unterstützen, sagt er. Aber was für eine Wahl habe er? Der Winter komme schließlich näher.
In Sombor will er nicht bleiben, auch wenn es ihm hier gefällt. Er habe Freunde gefunden, sagt er und deutet auf einen 60-jährigen Serben, der auch am Hauptplatz herumläuft. Dragan habe ihn bei sich aufgenommen, erklärt Ghais. Dragan winkt und kommt herüber. Er ist Kriegsveteran, erzählt er. Nach dem Jugoslawienkrieg ist er obdachlos geworden. Seit Jahren lebt er in einem verlassenen Haus, ohne Strom und Wasser.
Ghais ist der Erste, dem er dort eine Schaumstoffmatte hingelegt hat. Warum er immer so lang schlafe, fragt er den jungen Syrer. „Ich schaue bis in die Früh Videos am Handy“, erklärt der. „Welche?“, fragt Dragan. „Videos über Amsterdam“. Da will er leben, sollte er es irgendwann über die Grenze schaffen.
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