"Fand die Kritik an Ratzinger unfair"
KURIER: Die deutsche Kirche befindet sich mitten in einem – stark polarisierenden – Reformprozess, genannt „Synodaler Weg“. Und dann platzt da noch ein Missbrauchsgutachten hinein, welches unter anderem den emeritierten Papst Benedikt belastet …
Manfred Lütz: Atmosphärisch hat das für die katholische Kirche in Deutschland natürlich katastrophale Auswirkungen. Viele Menschen verlieren die Geduld, wollen sich nicht länger gegenüber ihrem Umfeld als Katholiken rechtfertigen müssen und treten aus der Kirche aus. Die Deutsche Bischofskonferenz hat seit zwölf Jahren eine Form der Aufarbeitung des Missbrauchs gewählt, die gescheitert ist. Ich bin von Anfang an für eine staatliche, wirklich unabhängige Aufarbeitung eingetreten, wie man das in Österreich vorbildlich gemacht hat. Bei uns in Deutschland hat die bisherige Aufarbeitung faktisch zu nichts geführt. Es gibt keinen einzigen Verantwortlichen, der Konsequenzen gezogen hat und zurückgetreten ist. Keinen einzigen! Und die Betroffenen haben immer noch den Eindruck, dass sie nicht hinreichend entschädigt werden.
Hätten also auch Bischöfe zurücktreten sollen?
Naja, in Chile ist die ganze Bischofskonferenz zurückgetreten … Der Münchner Kardinal Marx hat symbolisch seinen Rücktritt angeboten, das fand ich eindrucksvoll. Aber auch er hat keine persönliche Verantwortung für konkrete Einzelfälle übernommen. Und so etwas wünschen sich ja die Opfer. Eigentlich sollte das für uns Katholiken ja gar nicht so schwierig sein: Bei jeder Messe bekennen wir unsere Schuld, es gibt die Beichte und die Vergebung.
Woran liegt es dann?
Möglicherweise hängt das mit einer sich immer mehr steigernden Schwarz-Weiß-Sicht zusammen: Täter werden ausnahmslos als Monster dargestellt, und Opfer als immer bis an ihr Lebensende schwerstens traumatisiert. Beide Botschaften sind auch therapeutisch gesehen katastrophal. Denn dann wird sich kein Täter freiwillig in Therapie begeben, weil keiner ein Monster sein will. Und es ist auch deutlich schwieriger, für „monströse“ Verbrechen Verantwortung zu übernehmen. Bei den Opfern andererseits geht es darum, dass das Opfer am Ende der Therapie sagt: Der Missbrauch ist zwar geschehen, aber ich weigere mich, dass der Täter weiter Macht über mein Leben hat; ich lebe jetzt mein Leben. Das gelingt nicht immer, aber doch oft.
Sie sagen, es habe niemand Verantwortung übernommen – gleichzeitig aber haben Sie einen der früheren Verantwortlichen, den emeritierten Papst, zuletzt sehr verteidigt …
Ich habe Benedikt nicht rundum verteidigt. Ich habe durchaus gesagt, dass ich die juristische Sprache seiner ersten Einlassungen zum Münchner Gutachten unangemessen gefunden habe. Ich habe aber überhaupt nicht verstanden, warum die Frage, ob Ratzinger als Münchner Erzbischof an einer bestimmten Sitzung teilgenommen hat, von den Gutachtern so hochgejazzt wurde. Denn als Erzbischof von München war er in jedem Fall verantwortlich, ob er nun da war oder nicht – zumal es in dieser Sitzung überhaupt nicht um Missbrauch ging. Und in allen vier Fällen, die ihm zur Last gelegt wurden, gibt es keinen einzigen handfesten Beweis. Wie das dann aufgebauscht wurde, das fand ich ausgesprochen unfair.
Das heißt, Sie nehmen Benedikt von Ihrer zuvor allgemein geäußerten Kritik aus …
Er hat sich dann ja in seinem sehr persönlichen Brief, wie ich finde: eindrucksvoll, entschuldigt. Man hat kritisiert, dass er viel mehr Wir- als Ich-Botschaften ausgesendet hat. Man muss aber wissen, dass für Ratzinger das „Wir“, die Gemeinschaft der Kirche, viel stärker ist als das individuelle „Ich“. Darum verweist er ja auch auf das Schuldbekenntnis in der Liturgie. Aber das entsprach nicht der Erwartungshaltung. Man erwartete ein „Ich“. Doch ich finde es schön, dass es Menschen gibt, die sich vorgestanzten Plastikformulierungen verweigern und gerade bei einer Entschuldigung ganz sie selber sind.
Sie haben sich dazu auch in einem Beitrag für die NZZ geäußert. Der Politikwissenschaftler Alois Riklin hat Ihnen in einer Replik darauf vorgeworfen, Sie hätten Ratzingers „größte Fehlleistung“ ausgeblendet: dass nur Priester über Priester urteilen sollten.
Riklin ist offenbar ein Gralshüter von Hans Küng, der jetzt nocheinmal auf Ratzinger draufhauen will und bei der NZZ offenbar sakrosankt ist, denn man lässt ihm da groben Unfug unkritisiert durchgehen. Wenn er Ratzinger vorwirft, er hätte als Präfekt der Glaubenskongregation die Meldung an den Staat verbindlich machen müssen, hat er nicht bedacht, dass das dann auch in Nordkorea, Afghanistan und China gegolten hätte. Und dann hat er noch eine ganz tolle Idee: Er behauptet, der Bischofseid verpflichte Bischöfe, dem Papst auch gegen ihr Gewissen zu gehorchen. Das ist kompletter Unsinn. Nach Thomas von Aquin muss man sogar dem irrenden Gewissen folgen, Papst Johannes Paul II. sprach immer vom „Heiligtum des Gewissens“ und gerade Benedikt hat den von ihm verehrten John Henry Newman seliggesprochen, einen Konvertiten, der sagte, wenn er einen Trinkspruch auszubringen hätte, dann erst auf das Gewissen und dann erst auf den Papst. Wenn man Schaum vor dem Mund hat, verliert man schnell den Überblick.
Und was ist mit dem Vorwurf, dass es zumindest früher vor allem um den Schutz der Institution Kirche ging, dann erst um die Täter und zuletzt um die Opfer?
Das hat ja Benedikt selbst thematisiert! In seinem Brief an die Iren hat er 2010 geschrieben, dass man der Kirche vorwerfen müsse, dass sie früher zu oft an ihr Image und nicht an die Opfer gedacht habe. Ich fand die Kritik an Ratzinger aber vor allem deswegen unfair, weil ich persönlich erlebt habe, wie er zwischenzeitlich der einzige im Vatikan war, der gegen massivste Widerstände so entschieden gegen Missbrauch vorgegangen ist. Es gibt wahrscheinlich in der weltweiten katholischen Kirche keinen einzigen Menschen, der so viel gegen Missbrauch erreicht hat wie er. Die Italiener und Franzosen wissen das, die Deutschen nicht.
Das Missbrauchsthema ist ja inhaltlich und von der Genese eng mit dem sogenannten „Synodalen Weg“ verknüpft. Nun meinen manche Bischöfe, aber auch andere, der Missbrauchsskandal werde zugunsten einer innerkirchlichen Reformagenda instrumentalisiert …
Wenn manche Bischöfe auf den Missbrauch angesprochen werden, sind sie sehr schnell beim Synodalen Weg. Das ist dann das Signal: Sie sehen doch, ich bin modern, ich unterstütze liberale Reformen, Stichwort Zölibat, Frauenweihe, Sexualmoral etc. Dabei gibt es keinerlei wissenschaftliche Evidenz, dass der Zölibat mit Missbrauch irgendetwas zu tun hat; wenn Frauen Diakoninnen werden, werden allein deswegen Priester nicht weniger missbrauchen, und die alte katholische Sexualmoral hat Missbrauch noch nie gutgeheißen. Viele Betroffene beklagen, dass auf diese Weise wieder nicht über sie und zum Beispiel die nötigen Entschädigungen geredet wird.
Wie beurteilen Sie den Synodalen Weg demnach?
Ich glaube, da sitzen viele engagierte Katholiken zusammen, die ernsthaft Reformen wollen und das ist auch gut so. Aber das muss man in synodalem Geist tun, wie Papst Franziskus immer wieder anmahnt, das heißt indem man ganz anderen Meinungen wirklich zuhört, die zu verstehen versucht und dann den Heiligen Geist wirken lässt. Mir scheint aber leider, dass die Art, wie zum Teil mit der (konservativen; Anm.) Minderheitenposition umgegangen wird, nicht immer sehr „synodal“ ist.
Geht es bei der aktuellen Kritik an Benedikt auch um mehr als den Missbrauch: um seine Theologie, sein Kirchenbild?
Naja, dafür gibt es fast so etwas wie einen Beweis. Bevor noch jemand das Gutachten gelesen haben konnte, wussten manche eine Minute nach der Pressekonferenz schon, dass damit Ratzingers Lebenswerk zerstört sei. Das bestätigt jene „sprungbereite Feindseligkeit“ ihm gegenüber, von der er schon einmal gesprochen hat. Trotzdem kann man Ratzinger natürlich kritisieren. Er hat so oft wie wohl kein Papst ausdrücklich geschrieben, dass irgendein Text von ihm keineswegs unfehlbar sei und er auf Kritik gespannt sei.
Die Philosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz hat in einem KURIER-Interview gemeint, es werde immer deutlicher, dass der Synodale Weg von der Lehre der Kirche weg führe …
Die Frage ist, was der Synodale Weg ist. Das ist ja nicht ein einziger Pfad, sondern das sind über 200 Katholiken und Katholikinnen, die versuchen, einen Konsens zu finden. Die Gefahr sehe ich darin, dass die Teilnehmer sich in so einer Art Blase befinden und denken, von irgendeiner Formulierung hänge nun das Wohl und Wehe der Kirche ab. Nicht die Mehrheiten sind entscheidend, sondern ob das, was da ausgedrückt wird, sich in das Ganze der weltweiten Katholischen Kirche einfügen lässt. Wenn nicht, dann wird das in Rom nur abgeheftet – egal wie groß die Mehrheit in Frankfurt war. Im Übrigen treten die Leute nicht wegen dieser Themen aus, sondern zum Beispiel, weil sie nicht mehr an Gott glauben, darüber redet in der Kirche aber kaum jemand.
Wie könnte es im besten Falle weitergehen?
Man wird vor allem dafür sorgen müssen, dass Frauen mehr wirkliche Macht in der Kirche bekommen. Man darf dabei aber die Machtfrage nicht klerikalisieren und sie an der Frauenordination festmachen. Dann erliegt man dem Utopiesyndrom nach Watzlawick nach dem Motto: Wir streben nach dem Unerreichbaren und verhindern so die Verwirklichung des Möglichen. Man muss jetzt Priester „entmachten“ und auf ihre Sakralfunktionen und auf die Seelsorge konzentrieren und Frauen mehr, viel mehr Entscheidungskompetenz geben. Das ginge schon sofort. Wenn gemäß dem II. Vatikanische Konzil die Laien die zentrale Bedeutung in der Kirche haben und das Weiheamt als Dienst verstanden wird: die Priester dienen den Laien, die Bischöfe den Laien und ihren Priestern und der Papst ist der „Diener der Diener Christ“, dann wären wir wirklich weiter.
Und was ist mit der sogenannten „katholischen Sexualmoral“?
Ich habe für ein zehnjähriges Bußschweigen der Kirche zu sexuellen Fragen plädiert. Man hat die Sexualmoral zu lange für kirchliche Parteipolitik missbraucht. Wer für die Pille war, konnte kein Bischof werden, wer gegen die Pille war, konnte kein Moraltheologieprofessor werden. Das war absurd. Bis zum Jahr 1930, also 1.900 Jahre lang, gibt es keine einzige ausführlichere päpstliche Entscheidung zur Sexualmoral. Warum können wir nicht einfach wieder mit den Menschen über den Sinn des Lebens reden, über Jesus Christus, das Befreiende der christlichen Botschaft und die Hoffnung auf das ewige Leben?
Aber kann sich die Kirche von so existenziellen Fragen wie Familie, Beziehung dispensieren?
Das sind existenzielle Fragen, klar. Aber die Kirche hat hier leider ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt – Punkt.
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