Philosophin Gerl-Falkovitz: "Die Mitte ist ausgetrocknet"
KURIER: Was ist von „Weihnachten“ in unserer Zeit noch übrig?
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Von C. S. Lewis gibt es die treffende Unterscheidung zwischen X-mas und Christmas. Nach seiner Erfahrung feiern die meisten heute X-mas; es ist die Rede von den Feiertagen, vom Jahresende … Lewis schlüpft in die Rolle eines Historikers, der beobachtet, wie sich Menschen vor Weihnachten unglaublich abhetzen: Karten schreiben, Geschenke kaufen etc. Am 24. Dezember sind sie dann völlig erledigt, zudem noch überessen, am 25. schlafen sie bis Mittag. Gleichzeitig bemerkt er, dass eine Minderheit die Geburt eines Gottes in einer stallähnlichen Grotte feiert, die Menschen sind entspannt und froh, am nächsten Tag gehen die Feierlichkeiten weiter. Und er fragt sich dann, ob X-mas und Christmas überhaupt gemeinsame Wurzeln haben und kommt zum Schluss, dass das nicht sein kann. Der Punkt ist: Wenn man ein Fest entkernt, dann bleibt nur die Dekoration übrig – aber die macht Mühe und erzeugt Stress.
Hat die Pandemie hier als Brandbeschleuniger der Entkernung gewirkt – oder bietet sie Anlass zum Innehalten, zur Rückbesinnung?
Mir scheint, die Corona-Regelungen der Kirchen haben den Auszug beschleunigt. Das erste Jahr war verheerend – Ostern ist ausgefallen, auch Pfingsten wurde weithin nicht gefeiert, obwohl es möglich gewesen wäre. Jetzt hat man sich an Online-Übertragungen gewöhnt. Damit verzichtet man aber auf das, was die Katholische Kirche kann: große Dramaturgie, starke Präsenz, Sinnlichkeit. Es gibt allerdings bei manchen Jugendlichen eine Gegenbewegung. Aber die Pandemie hat insgesamt vieles umgestürzt, und ich sehe nicht, ob das so schnell wieder aufzuholen ist.
Hat sich die Kirche zu schnell staatlichen Corona-Vorgaben gefügt?
Eindeutig ja. Ich fand es verblüffend. Meine katholische Kirche hat die staatlichen Maßnahmen teils sogar übererfüllt. Das ging bis in die Liturgie – dass etwa der Priester beim Austeilen der Kommunion nicht zu den Einzelnen „Leib Christi“ sagen durfte. Mich hat die Willfährigkeit, womit der Episkopat dem allen zugestimmt hat, gestört. Besonders schlimm fand ich das Verbot, Altenheime oder Krankenhäuser von Priestern besuchen zu lassen.
Zum Thema Kirche und Corona gehören auch Impfstraßen in Kirchen. Der in Wien lehrende Dogmatiker Jan-Heiner Tück hat vor einer „Profanierung des Sakralen“ gewarnt und gemeint: „Kathedralen sind Statthalter des Heiligen in dieser Welt, sie sollten nicht als verlängerter Arm staatlicher Gesundheitspolitik missbraucht werden.“
Ich sehe das genauso; habe das auch im Stephansdom betrachtet: Wo heute die Impfstraße ist, war früher die Anbetung. Dieser Wechsel von einer Anbetungskapelle zur Impfstation ist schon vielsagend. Es gäbe ja Alternativen. Neben dem Dom steht das Curhaus. Warum nicht dort eine Impfstation einrichten – auch im Namen der Kirche? Das wäre doch völlig ausreichend. Aber heilige Räume wie den Dom sollte man nicht funktional verwenden. Das verleiht der Impfaktion den Glanz einer heilsmäßigen Prozedur. Also einer sakralen Überhöhung, die dem Vorgang nicht gerecht wird.
Man könnte einwenden, es kämen Leute zur Impfung, die vielleicht sonst nicht gingen; und für die Kirche ist es eine Chance, dass Menschen mit ihr in Berührung kommen, die sonst nicht den Weg in ein Gotteshaus finden …
Man könnte ja auch das Curhaus ausdrücklich als kirchlichen Bau erkennbar machen … Es könnte ebenso als kirchliche Aktion sichtbar werden, ohne den Dom dafür heranzuziehen.
Warum, glauben Sie, macht die Kirche das?
Es sind Versuche, die Kirche attraktiv zu machen, sich auf der Höhe der Zeit zu zeigen: Impfen ist ja tatsächlich geboten. Man will sich sicher auch hilfreich erweisen – das würde ich auch positiv sehen. Und, wie Sie gesagt haben, man hofft Leute anzusprechen, die sonst nicht in den Dom kämen. Aber es geht um eine Abwägung, denn auf der anderen Seite steht die Frage: Geben wir Räume, die nicht für Zwecke bestimmt sind, sondern für Sinn, plötzlich für Zwecke frei, die locker auch anderswo durchgeführt werden könnten?
Sind aber Kirchen auch jenseits von Impfstraßen nicht immer auch Zweck- und nicht nur Sinnräume: etwa als touristische Attraktionen?
Das stimmt. Da wäre allerdings auch zu fragen, wie weit man da gehen soll. Man kann sich zum Beispiel überlegen, was in Moscheen möglich ist. Es gibt Religionen, die ihre heiligen Orte ganz anders schützen.
Man könnte darin allerdings auch eine Stärke des Christentums gegenüber dem Islam erkennen …
Dem kann ich prinzipiell zustimmen. Wie immer macht der Ton die Musik, aber die Grenzen zu Zweckbauten sind fließend. Es gibt einen tollen Aufsatz von Marcel Proust über den „Tod der Kathedralen“ von 1903. Darin schreibt er, wie man dereinst in der Kathedrale von Chartres – nach dem Erlöschen des Christentums – Schauspieler anheuern wird, um einen Gottesdienst zu zelebrieren, mit Gregorianik und allem Drum und Dran. Und man wird teuer dafür bezahlen, wie für eine Wagner-Aufführung in Bayreuth. Es bleibt also ein ästhetisches Gesamtkunstwerk – aber die Mitte ist ausgetrocknet.
In einem Interview mit der „Furche“ 2007 haben Sie auf die Frage, ob Europa noch ein christlicher Kontinent sei, geantwortet: „Die Glut ist noch da“ und dabei auch Romano Guardini zitiert, der von den „Verbrennungsrückständen des Christentums“ gesprochen hat. Würden Sie das heute noch so sagen?
Ja, das würde ich immer noch sagen. Bei allem, was wir abbröckeln sehen, gibt es gegenläufige Bewegungen. In Augsburg gibt es etwa das „Gebetshaus“ von Johannes Hartl. Vor zwei Jahren gab es ein Treffen mit 12.000 jungen Leuten. Da ist auch manches, vor allem in der Musik, wo ich nicht so mit kann. Aber ich habe es mir genau angesehen – da gibt es eine unglaubliche Potenz.
Apropos „abbröckeln“: In Deutschland versucht man, dem Bedeutungsverlust der Kirche gegenzusteuern, indem man sich auf einen „Synodalen Weg“ begeben hat, der grundlegende strukturelle und organisatorische Reformen vorsieht, der aber auch innerkirchlich heftig umstritten ist. Wie sehen Sie dieses Unterfangen?
Ich glaube, mittlerweile zeichnet sich ab, dass dieser Weg von der Lehre der Kirche wegführt. Es gibt Webfehler, die im Lauf der Zeit immer deutlicher werden. Ein Webfehler besteht darin, dass das Projekt überhaupt nicht kirchenrechtlich verankert ist. Die Beschlüsse sind kirchenrechtlich ein Nullum, sie haben keinerlei Konsequenzen. Daher sucht man anderweitig Absicherung: Die Bischöfe sollen sich namentlich verpflichten, die Beschlüsse durchzuziehen. Allerdings sind einige Beschlüsse überhaupt nicht durchführbar – das ginge nur auf universalkirchlicher Ebene. Zur Frage etwa, ob Frauen Priesterinnen werden können, kann der Synodale Weg beschließen, was er will. Das kann gar nicht in diesem engen Rahmen beantwortet werden. Ein anderes Beispiel wäre die Sexualmoral. Beim Synodalen Weg wird ja die Ehe nur noch als Höchstform der Verbindung zwischen zwei Menschen gewertet; daneben gebe es aber auch andere Formen, die kirchlich gesegnet werden sollen. Das sind Themen, die nicht die deutsche Kirche für sich entscheiden kann. Was aber heißt das, wenn sich Bischöfe dazu verpflichten, das in ihren Diözesen umzusetzen?
Was hieße es Ihrer Ansicht nach?
Es geht ja noch weiter: Wenn sich Bischöfe zu bestimmten Reformen verpflichtet haben, dann ist es damit ja nicht getan. Sondern es soll dann noch eine Evaluierung stattfinden. Der Synodale Weg wird zwar 2023 beendet – aber es soll ein Präsidium geschaffen werden, das über die Folgejahre die Umsetzung der Beschlüsse des Synodalen Weges kontrolliert. Wir hätten damit eine Art zweites Papst- oder Lehramt. Das, was man eigentlich abschaffen will – die hierarchische Struktur –, wird an anderer Stelle wieder eingesetzt. Dieses Gremium würde also die Bischöfe kontrollieren.
Ist aber so klar, was Rom eigentlich will? Viele interpretieren dieses Pontifikat ja so, dass Papst Franziskus viele Bälle in die Luft wirft, um zu sehen, was daraus wird, und innerkirchliche Reformbewegungen durchaus mit Sympathie verfolgt, ohne sich vielleicht selbst explizit festzulegen …
Das stimmt vermutlich. Aber was den Synodalen Weg konkret betrifft, wird, so scheint mir, die Nichtzustimmung des Papstes immer klarer. Sonst hätte er auch nicht den universalen Synodalen Weg eröffnet. Man merkt es auch daran, dass der Papst beim deutschen Synodalen Weg keine ungeteilten Sympathien mehr genießt. Er hat ja auch für Enttäuschung bei den Reformern gesorgt, weil er nach der Amazonas-Synode weder die Tür zur Frauenweihe noch zur Weihe von viri probati geöffnet hat.
Da meinen manche freilich, er halte die Zeit dafür eben noch nicht für reif, habe aber durchaus Sympathien für diese Anliegen; einige sehen ihn hier auch als Gefangenen der Kurie …
Ich kenne diese Interpretationen – aber ich glaube, sie stimmen nicht. Es gibt etwas, das den Papst brüskiert hat: Es gab am Anfang des Synodalen Weges einen breiten Antrag, zusätzlich zu den vier Foren ein fünftes Forum „Evangelisierung“ einzurichten. Dieser Antrag wurde kommentarlos abgelehnt. Das Thema kommt tatsächlich überhaupt nicht vor – im Gegenteil: Bei der letzten Vollversammlung meinte ein prominenter Theologe gar, wir sollten endlich aufhören, von Evangelisierung zu sprechen, weil es doch um etwas ganz anderes gehe, nämlich um die Missbrauchskrise. Da war einen Augenblick verblüffte Stille im Saal. Ich glaube, da sind beim Papst die Warnlampen angegangen. Dazu passt auch, dass Kardinal Walter Kasper, der eher dem liberalen Flügel der Kirche angehört, in einem Interview sagte: Mit den Vorschlägen von Forum I im Synodalen Weges werde „dem Bischofsamt das Genick gebrochen“.
Nun schickt der Papst die gesamte Weltkirche in einen synodalen Prozess. Ist das ein Versuch, die Entwicklungen in Deutschland ein bisschen einzufangen?
Da bin ich sicher. Das ist das Lasso, das Franziskus ausgeworfen hat, um die deutsche Kirche einigermaßen mit Anstand wieder in die Universalkirche zurückzuholen.
Wir sind hier in der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. in Heiligenkreuz; Sie sind kürzlich mit dem Joseph-Ratzinger-Preis ausgezeichnet worden. Wie viel Kontinuität sehen Sie zwischen dem vorigen und dem gegenwärtigen Pontifikat?
Franziskus hat bei der Preisverleihung eine Rede auf Benedikt XVI. gehalten – ich habe selten eine derartige Eloge auf ihn gehört. Es war großartig: Er nannte ihn einen „Mann der Weisheit“, sprach von seinem theologischen Werk, das bleiben wird … Das hätte er alles nicht sagen müssen. Es war kein pflichtmäßiges Abladen von schönen Worten, sondern eine öffentliche Würdigung, die aus dem Herzen kam. Natürlich gibt es Differenzen, was den Führungsstil betrifft. Franziskus setzt bekanntlich einen pastoralen Schwerpunkt, aber er hat großen Respekt vor der theologischen Durchdringung seines Vorgängers. Mit jedem Pontifikat verschieben sich Gewichte – und wir haben jetzt eine andere Gewichtung, keine Frage. Aber Franziskus ist es ein großes Anliegen, der Ansicht entgegenzutreten, dass zwischen ihm und Benedikt ein Dissens in grundlegenden Fragen bestünde.
Erzbischof Georg Gänswein hat jüngst in einem Interview gemeint, seine frühere Aussage, dass zwischen die beiden Päpste „kein Blatt Papier“ passe, würde er heute so nicht wiederholen …
Zwischen zwei Menschen passen immer Hunderte Blätter Papier! Die Päpste, die ich erlebt habe – beginnend mit Pius XII. – waren alle ganz unterschiedlich. Diese Vielfalt ist Ausdruck der Vitalität der Kirche.
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