Kardinal Schönborn empfiehlt "weniger Verbissenheit"
Das Christentum werde schon seit 2000 Jahren totgesagt, habe aber eine "tiefe innere Kraft", sagt Christoph Schönborn. Der Kardinal über Impfpflicht, Politik, Medien und die Rolle der Frauen in der Kirche.
Herr Kardinal, was erzählen Sie Gläubigen, die sich vor einer Impfung fürchten oder diese ablehnen?
Christoph Schönborn: Das muss man ernst nehmen. Relativ viele Menschen haben Angst. Gleichzeitig müssen Regierung und Experten auf die Gesundheit aller schauen. Ohne Impfung ist diese Pandemie eben nicht zu überwinden. Und, ja, natürlich ist eine Impfpflicht ein Eingriff in die Freiheit – so wie jedes Gesetz. Etwa das Rauchverbot. Ich war selbst lange Raucher und habe bewundert, wie bereitwillig das die Bevölkerung dann doch angenommen hat.
Was ist die Antwort auf die Frage, ob die Freiheit bedroht ist?
Die Kirche gibt die Antwort, die die Philosophie seit eh und je gegeben hat: Freiheit ist ein unglaublich kostbares Gut. Sie hat nur eine Grenze, und das ist die Freiheit des anderen. Freiheit ohne Verantwortung und ohne Pflichten gibt es nicht. Es gibt die Pflicht, den Nächsten zu schützen, damit wir miteinander in Freiheit leben können.
Sie haben kürzlich Kritik an einer neuen, wissenschaftsbezogenen Skepsis geübt. Aber es gab eine Zeit, als die Religion oft die Wissenschaft infrage stellte.
Das hat es gegeben, ist aber sicher nicht die Hauptlinie des Christentums, auch nicht anderer Religionen. Der Islam hatte eine große wissenschaftliche Tradition. Und ich wage zu behaupten, dass das Christentum Pate gestanden ist bei der Entwicklung der Wissenschaft: Weil wir glauben, dass die Welt kein unergründlicher Zufall ist, sondern dass hinter der Schöpfung Vernunft steht. Daher können Wissenschaftler versuchen, die Logik eines Virus zu erforschen. Ich halte es auch für einen fundamentalen Irrtum zu behaupten, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft weltweit einer Verschwörung aufsitzt. Keiner sitzt für sich alleine im Labor, alle tauschen sich aus. Nur so war es möglich, innerhalb von nur fünf Monaten einen Impfstoff zu entwickeln.
Aber es war doch einst so, dass viele Wissenschaftler exkommuniziert, verfolgt oder als Priester aus der Kirche ausgeschlossen wurden.
Die großen mittelalterlichen Denker Thomas von Aquin und Albert der Große haben den Grundstein für experimentelle Forschung gelegt. Nicht nur in der Kirche hat es wissenschaftsfeindliche Tendenzen gegeben. Der Hexenwahn etwa war ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Es war ähnlich wie heute eine Angst vor dem Unbekannten. Man sucht Schuldige in einer Katastrophe, einer Epidemie.
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Zur Angst gesellt sich derzeit Aggressivität. Jetzt werden sogar Pflegekräfte bedroht. Was sagen Sie dazu? Vermutlich ist es schwer, diese Leute zu überzeugen. Aber darf ich auch ein behutsames Wort an die Medien richten? Es besteht schon Gefahr, dass die konzentrierte Aufmerksamkeit auf diese Phänomene den Blick verstellt auf die große Mehrheit der Bevölkerung, die vernünftig reagiert und alle Schutzmaßnahmen akzeptiert. Daher kann man ruhig etwas mehr Gelassenheit üben.
Wie kann die Polarisierung überwunden werden?
Nicht mit Aggression, sondern mit einem Appell an die Vernunft. Manchmal hilft auch ein bisschen Humor und weniger Verbissenheit. Und jenen, die sich an die Nazizeit erinnert fühlen, muss man sagen: Fragt eure Großeltern. Die Frage einer temporären Impfpflicht kann man doch nicht mit dem Nationalsozialismus vergleichen!
Die Politik hat in den vergangenen Jahren kein vertrauensvolles Bild erzeugt.
Das ist sehr bedauerlich. Ich habe, und dazu stehe ich, Sebastian Kurz bei seinem Rücktritt auch ein Wort des Dankes gesagt. Das ist keine Absolution von realen oder möglichen Fehlern. Aber ich plädiere für ein bisschen Respekt vor jenen, die ein politisches Amt übernehmen. Das schließt Kritik nicht aus.
Dennoch hat Sebastian Kurz heftige Konflikte erzeugt, auch mit der katholischen Kirche. Bei der Migration hatte man ganz andere Ansichten. Ja, diese unterschiedlichen Standpunkte haben wir öffentlich gemacht. Aber wir haben auch immer wieder über humanitäre Korridore verhandelt, etwa für Syrer. Natürlich ist Schlepperwesen ein Problem und viel Kriminalität im Spiel. Aber gleichzeitig geht es in der Flüchtlingsfrage um besonders bedrohte und verletzliche Menschen.
Bei der Flüchtlingsthematik spielt auch immer die Angst vor Überfremdung eine Rolle. Wie halten Sie es mit anderen Religionen?
Grundsätzlich haben wir ein sehr gutes Miteinander. Papst Franziskus meint immer, das Wichtigste sei nicht, welche Religion du hast, sondern dass du ein Mensch bist wie ich. Dieses Verbindene stärker herauszustellen hilft uns auch in den natürlich vorhandenen kulturellen Spannungen und religiösen Differenzen.
100 Millionen Christen werden verfolgt. Ist die katholische Kirche nicht ein wenig blauäugig angesichts einer dynamischeren, man könnte sogar sagen aggressiveren Religion wie dem Islam, der aufgrund der Demografie auch in Österreich irgendwann die Oberhand kriegen könnte?
Diese Sorge teile ich – aber auch wegen der hohen Zahl der Kirchenaustritte. Die Österreicher wollen ihre Identität bewahren, die hat aber auch etwas mit dem Christentum zu tun. Wenn wir uns sang- und klanglos davon verabschieden, dürfen wir uns nicht wundern, dass Menschen, die sich von ihrer Religion, dem Islam, nicht verabschieden, mehr Profil haben. Wobei ich diskret daran erinnern will, dass das Christentum schon seit 2000 Jahren totgesagt wird. Aber es hat eine tiefe, innere Kraft.
Dann ist es aber verwunderlich, dass die Kirche bei einem so schwerwiegenden Gesetz wie der Sterbehilfe keine Rolle gespielt hat.
Ja, alle unsere Einwände zum assistierten Suizid sind vom Tisch gewischt worden. Das tut weh. Aber die Hospizbewegung in Österreich ist stärker als in den meisten europäischen Ländern. Gott sei Dank hat die Regierung im Gesetzesentwurf eine massive Stärkung der Hospizbewegung versprochen.
Könnte die mangelnde Attraktivität der katholischen Kirche auch am Frauenbild liegen? Sie haben eine aktive Rolle in der Kirche. Aber warum kann Ihr Nachfolger nicht eine Nachfolgerin sein?
Ich verstehe die Argumente sehr gut. Von der theologischen Seite ist es eine harte Nuss. Wir brauchen eine grundsätzliche Reflexion darüber: Warum ist die Frau anders als der Mann? Und das ist ja auch etwas Herrliches.
Sprich: Das obliegt dem Vatikan und nicht Ihnen, darüber zu entscheiden.
Nein, es obliegt uns allen, darüber nachzudenken. Was ist das Wunder, dass wir als Mann und Frau existieren?
Sie sind jetzt 30 Jahre lang Bischof, vor zwei Jahren hat der Papst mitgeteilt, dass er Sie vorläufig und auf unbestimmte Zeit verlängert. Wie lange ist das einzuschätzen?
2023 steht eine Synode an, und ich glaube, es ist dem Papst nicht unwichtig, dass ich dabei bin. Dafür muss ich nicht aktiver Erzbischof von Wien sein. Das ist in Gottes Hand, und dort ist es gut untergebracht.
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