Familie Europa

Familie Europa
Zwei Generationen, zwei Sichtweisen: KURIER-Autoren und ihre Kinder schreiben über die Idee von und ihre Erfahrungen mit ihrem Kontinent.

Ergebnis einer Redaktionssitzung: Viele unserer Kinder leben verstreut in ganz Europa.

Familie Europa
Vom Fenster aus sah ich die Füße der vorbeieilenden Brüssler. Ich musste nur den Park Ciquantenaire queren und war in einer faszinierenden Welt. Im Berlaymont, dem Sitz der Europäischen Kommission, durfte ich 1981 beobachten, wie Beamte die Idee Europa mühsam in die Bürokratie übersetzten. In der Früh trafen wir uns in der Cafeteria, die einen waren müde vom Arbeiten, die anderen, weil sie erst aus der Disco im Seebad Knokke gekommen waren.

Abends versuchten wir in mehreren Sprachen herauszufinden, was uns verband und welche Vorurteile stimmten. Die Italiener machten dabei immer den besten Kaffee. Still wurde es, wenn ein Franzose den Deutschen fragte, wo sein Vater im Krieg war. Und wir wussten, dass wir ein Europa bauen wollten, wo wir viel lachen, lieben und auch streiten werden, aber nie wieder Krieg führen.

Hannah (25) - PR-Agentin in London

Familie Europa
In London fühle ich mich frei – in allen Lebenslagen. Es gibt nichts, das man in der Multikulti Hauptstadt Europas nicht tun oder sehen kann. Kultur, Hautfarbe, Religion – egal, man wird mit offenen Armen empfangen. Ich lebe schon fast drei Jahre hier und liebe die Individualität, die London erlaubt. Das trifft auch auf die Arbeitswelt zu.

Was zählt, ist Leistung, nicht, wen man kennt. Meine Freundin ist letzte Woche zu einem Job-Interview gegangen, ihren Lebenslauf auf ein T-Shirt gedruckt. Das würde in Wien wohl weniger ankommen, hier kann es den Weg zu einer Karriere ebnen. Jeder Kulturkreis ist in meinem Büro vertreten. Das Gefühl, ein „Ausländer“ zu sein, kommt nicht auf. Es macht mich traurig, dass ein Politiker wie Nigel Farage, der mich an H.C. Strache erinnert, mit seiner umstrittenen Partei UKIP die Europawahlen gewinnen wird.

Europa? Das war in meiner Jugend vor allem mein Interrail-Ticket, das mir die Freiheit gab, im Sommer durch Europa zu fahren und dort zu bleiben, wo es mir gerade gefiel. Aber der Sehnsuchtsort für die Studentin aus OÖ war eher Amerika. Dort wollte ich ein Jahr als Lektorin arbeiten.

Daraus wurde nichts, die Studentenpolitik kam dazwischen. Mit den ÖH-Kollegen reiste ich per VW-Bus zu einer Tagung nach Lissabon, also wieder „nur“ quer durch Europa. Ich weiß nicht mehr, wie viele verschiedene Währungen wir dabeihatten. Das „ausländische“ Geld, das von solchen Reisen blieb, klimpert noch heute in irgendwelchen Vasen. Wie toll und gleichzeitig selbstverständlich ist es, dass meinen Kindern Europa zum Studieren, Arbeiten, Leben offensteht. Obwohl ich hoffe, dass sie irgendwann auch wieder nach Wien „heimfinden“.

Johannes, Filmemacher in Berlin

Barcelona: Filip; Hamburg: Viki; Zürich: Michael; Tromsø: Gottfried; Paris: Anna; Lissabon: Franziska; London: Lukas; Prag: Nino, Arnheim: Gita. Berlin: Ich.

Ich – das ist ein 23 Jahre alter Österreicher. Meine Freunde sind auf über neun Länder verstreut. Europa ist für mich nicht mehr der große Kontinent, der er einmal gewesen sein muss. Digitale Verbindungen überbrücken die örtliche Distanz. In meiner neuen Heimatstadt Berlin treffe ich jeden Tag Menschen aus allen Nationen, eine fremde Sprache überrascht nicht, sondern macht neugierig. Als Filmer und Eventmanager verschwimmen die Unterschiede noch mehr: Künstler, Mitwirkende, Einflüsse kommen aus allen Richtungen. Österreich ist nicht mehr Heimat, viel eher ein Ausgangspunkt.
Ich – das ist ein 23 Jahre alter Europäer.

Händel wurde in London zu George Frideric Handel. Goethes „Italienische Reise“ ist legendär. Wagner hatte an der ligurischen Küste und später an der amalfitanischen Genieblitze. Tausende weitere Beispiele könnten belegen, wie inspirierend andere europäische Länder für Künstler stets waren.

Die europäische Idee war immer auch eine kulturelle: aneinander geistig wachsen. In Grenzgebieten gibt es seit jeher die beste Küche. Und florierendes Kunstschaffen. Es ist kein Zufall, dass etwa so viele Maler und Literaten aus Kärnten kommen. Aber warum hatte man, als der Autor dieser Zeilen dort aufwuchs, noch solche Angst vor dem Slowenischen? Und warum musste man nach dem Urlaub am Meer stundenlang schikanös an der Grenze warten? Die EU ist ein Geschenk, eine Befreiung aus der Engstirnigkeit. Bürokratie hin oder her.

Nicolaus (15), Schüler

Wenn ich an Europa denke, fällt mir sofort Fußball ein. Bayern, Manchester United – das sind die Mannschaften, für die ich mich interessiere. St. Pölten gegen Sturm ist vergleichsweise schmerzhaft.

Wenn im Champions-League-Finale Real gegen Atletico Madrid spielt, ist es mir völlig egal, aus welchem Land die Teams kommen. Ich will besten Fußball sehen. Ländergrenzen existieren da für mich nicht. Ich wünsche mir im Supermarkt die besten Schokoladen. Und auf dem Feld die besten Spieler.
Wenn ich an Europa denke, fällt mir auch gutes Essen ein. Prosciutto aus Italien, Käse aus Frankreich – oder das klassische Schnitzel. Ich möchte Koch werden. Und bei jemandem wie Jamie Oliver lernen. Und bei einem Sternekoch in Paris. Früher hat man sich das nicht so einfach aussuchen können? Kann ich mir gar nicht vorstellen.

Ich war im Vorschulalter.Tarvis war für ein Kärntner Kind in den 60er-Jahren aufregend und exotisch. Ein bunter Mercato, sich türmende Waren, feilschen, gestikulieren. Spaghetti und Pizza. In österreichischen Vitrinen lag Geheimratskäse, er schmeckte wie seine rote Wachshülle. Auf den Speisekarten stand „Russisches Ei“, passend zum herrschenden Agrar-Sowjet: Gorgonzola und Mortadella waren verbotenes Schmuggelgut. Meine Eltern versteckten die Waren aus Tarvis in unserem Fiat Cinquecento. Der Grenzübertritt war ein Grenzgang, ein demütigendes Perlustrieren durch „Obrigkeiten“. Ich hasste Grenzen, schon bevor Stacheldraht und Todesschützen am Eisernen Vorhang in mein Bewusstsein drangen. Die EU machte Schluss mit dieser Enge und Willkür – und sollte sich als noch viel schöner heraus stellen als Tarvis . . .

Simon (19), Wirtschaftsstudent

Bei meinen Besuchen in Wiener Innenstadt-Lokalen höre ich oft Englisch sprechende Leute am Nachbartisch. Sie stellen sich nicht selten als Studenten aus der Slowakei oder Polen heraus. Für mich ist es unvorstellbar, dass diese Jugendlichen früher mit Stacheldraht gesicherte Grenzen überwinden mussten, um nach Wien zu kommen.

Der Heimweg in die Leopoldstadt führt mich über die Schwedenbrücke, und die Bootsstation erinnert mich an einen Ausflug nach Bratislava. Von der Haustür in die slowakische Hauptstadt brauchten wir gerade eine Stunde. Als Kind der EU kann ich mir lange Grenzkontrollen kaum vorstellen. Aber an die Besuche in den Wechselstuben, um Schillinge zu tauschen, erinnere ich mich. Glücklicherweise kann ich mein Karlovačko heute mit Euro bezahlen.

Als mein Vater 15 war, war es etwas Besonderes, wenn man ein paar Sätze Englisch konnte. Mit 20 fuhr er zum ersten Mal nach Grado. Das war Exotik für ihn und ist es bis an sein Lebensende geblieben. Europa? Ein Kontinent.

Als ich 15 war, durfte man, wenn man Glück hatte, in den Ferien nach England, um seine Sprachkenntnisse zu verbessern. Daheim war man in Floridsdorf oder Gigritzpatschen. Europa? Das war die „EG“, gegen die bei der Abstimmung 1994 viele Menschen Einwände hatten.

Als meine Tochter 15 war, hatte sie Freunde in England, Verwandte in Kanada, Studienpläne in Frankreich. Die sie auch verwirklicht hat. Jetzt ist sie 21 und sie weiß noch nicht, wohin die Reise geht. Vielleicht lebt sie eines Tages in Frankreich, vielleicht in Gigritzpatschen. Ihr Zuhause aber ist Europa, ganz selbstverständlich.

Bianca (21), Studentin in Wien

Das Schöne am Europäer-Sein ist, dass man alles vor der Türe hat; ob Meer oder Berge, Spaghetti oder Käsekrainer. Seit meinem Jahr in Frankreich bin ich von Fernweh geplagt, deshalb muss bald das nächste Erasmussemester her. Das ist auch zu rechtfertigen, denn Alexander von Humboldt sagte einmal, „die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche sich die Welt nie angeschaut haben“.

Und das stimmt, denn zu sehen, wie andere leben, trägt zumindest ein bisschen zur Toleranz bei. Reisen verbindet. Nur das mit dem Geld ist schwierig. Langsam, aber sicher muss ich mich damit abfinden, dass ich in naher Zukunft kein Loft im Zentrum von Kopenhagen beziehen werde. Doch wenn das Fernweh ganz stark drückt, dann muss in der Zwischenzeit das Café Europa für ein kleines Trostbier herhalten.

Ich bewundere meine Kollegin Margaretha Kopeinig und ihre Begeisterung für das „Europa“. Sie kennt die meisten der insgesamt 766 EU-Abgeordneten namentlich. Mir fallen gerade mal zwei Dutzend ein. Leider meist jene, die mit negativen Schlagzeilen auf sich aufmerksam machten. Nicht greifbar ist die Europapolitik, zu wenig emotionalisiert sie mich.

Und trotzdem will ich das Rad nicht zurückdrehen. Wie schön sind Grenzfreiheit und einheitliche Währung. Wie schön ist das Gefühl, dass Konflikte nicht in Kriegen, sondern an Verhandlungstischen ausgetragen werden. Was ich mir wünsche, ist mehr Transparenz und weniger Verordnungen zu Marmeladen – stattdessen Lösungen für Wirtschaftskrisen. Und ich wünsche mir, dass kommenden Sonntag mehr als 50 Prozent der Menschen ihre Stimme abgeben.

Jakob (21), Student in Schottland

Ich fühle mich in erster Linie als Österreicher, sehe mich aber auch als europäischen Bürger. Das Schönste an Europa ist für mich die Vielfalt an Kulturen und Sprachen auf so „kleinem Raum“. Und die Grenzfreiheit. Das wurde mir besonders in den vergangenen Monaten hier in Südamerika bewusst, wo ich ein Praktikum mache und reise.

Mich beunruhigen einige Entwicklungen in Europa: die inadäquaten Lösungen europäischer Politiker auf die Wirtschaftskrise, die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten und der dadurch verursachte spürbare Rechtsruck. Ich habe das Gefühl, dass die Bürger in wichtigen Entscheidungen oft keinen Einfluss haben und deshalb ein genereller Unmut gegenüber der EU und deren Politiker herrscht – besonders bei Jugendlichen, die sich immer weniger für das „Europäische Projekt“ interessieren.

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