Ihr Kern-Vorwurf trifft das sich der globalen Vernetzung rühmende Unternehmen ins Mark: Facebook stelle Gewinnsucht nachweisbar über den Kampf gegen Hass und Falschinformationen. Beleg: Der Algorithmus, der festlegt, was Nutzer zu sehen bekommen, sei so konzipiert, dass Facebook vor allem als emotionale Wutmaschine benutzt werde. „Facebook hat erkannt, dass, wenn sie den Algorithmus ändern, die Leute weniger Zeit auf der Seite verbringen, weniger auf Anzeigen klicken“, wodurch der Konzern weniger Geld verdiene.
Auszüge aus dem Sünden-Register, das Haugen anhand von Tausenden internen Dokumenten zusammengestellt hat, die in eine Enthüllungsserie des „Wall Street Journal” Eingang gefunden haben, lesen sich wie eine Ohrfeige für Gründer Mark Zuckerberg, der bei Kongress-Anhörungen stets diese Linie fährt: Wir sind nicht unfehlbar. Aber wir wollen nur Gutes. Und wir bemühen uns permanent um Verbesserung.
Mitverantwortung für Kapitol-Erstürmung?
Laut Haugen will Facebook politischen Radikalinskis oder Anti-Corona-Impfung-Herolden nicht wirklich Herr werden. Die Ex-Mitarbeiterin macht ihren Arbeitgeber sogar für die Erstürmung des Kapitols am 6. Jänner mitverantwortlich. Sicherheitsvorkehrungen gegen die Verbreitung von manipulativem Unsinn seien vorher aufgehoben worden.
Haugen fand zudem heraus, dass Facebook ein System etabliert hat, das rund fünf Millionen Nutzern bei Beleidigungen oder Drohungen Sonderrechte einräumt. Wo Normal-Verbraucher kurzerhand sanktioniert oder gesperrt werden, drücke Facebook bei Promis aus Sport, Unterhaltung und Politik oft ein Auge zu.
Größten Widerhall fand die von Haugen herbeigeführte Enthüllung, dass Facebook durch interne Studien um den verheerenden Einfluss der Facebook-Tochter Instagram vor allem auf junge Mädchen wisse, die mit ihrem Körper hadern. Danach sagen 13,5 Prozent, dass die Nutzung der App ihre Selbstmord-Gedanken verstärke. 17 Prozent geben an, dass die auf Instagram gepflegte Betonung von Makellosigkeit ihre Essstörungen verschlimmere. Zuckerberg hatte bisher öffentlich beteuert, es gebe keine Belege dafür, dass Instagram negative Folgen für Teenager haben könnte.
Bei einer Kongress-Anhörung vor wenigen Tagen versuchte Antigone Davis, ein hoher Facebook-Funktionär, ohne Erfolg bei den meisten Abgeordneten die brisanten Details zu entdramatisieren. Fast zeitgleich gab der kalifornische Milliarden-Konzern allerdings bekannt, dass man den Plan für eine eigene Instagram-Plattform für unter 13-Jährige stoppt. Kinderschutz-Organisationen sowie die Generalstaatsanwälte von 44 US-Bundesstaaten hatten dies seit Monaten gefordert.
Die Enthüllungen über das, was der demokratische Senator Richard Blumenthal „Verschleierung und Betrug” im Haus Facebook nennt, trifft das Unternehmen zu einem heiklen Zeitpunkt. In den USA laufen Kartelluntersuchungen wegen Missbrauchs von Marktmacht gegen den Konzern. Frances Haugen, darin sind sich Internet-Experten einig, hat Mark Zuckerberg nun den „schwersten Schlag” seit Gründung des Unternehmens zugefügt.
Bei der amerikanischen Börsenaufsicht SEC und etlichen Generalstaatsanwälten sind über ihre Anwälte acht verschiedene Beschwerden eingegangen. Tenor: Facebook habe Informationen unter Verschluss gehalten und Investoren damit de facto belogen - ein No-Go für jedes börsennotierte Unternehmen. Im November wird Haugen, die nach dem Anprangern der Missstände juristische Immunität als „whistleblower” beantragt hat, im Europa-Parlament über ihre Einblicke in das Geschäftsgebaren von Facebook berichten.
Facebook machte geltend, dass man „täglich versuche, eine Balance zwischen dem Recht von Milliarden Menschen auf freie Meinungsäußerung und einer sicheren Umgebung für Nutzer zu finden”. Nick Clegg, früher Englands Vizepremier-Minister, heute Zuckerbergs Kommunikationschef, nannte etliche Vorwürfe „lächerlich” und warf Medien „absichtliche Fehlbeschreibungen unserer Bemühungen” vor.
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