Binnen 24 Stunden setzten zu Wochenbeginn mehr als 170 Migranten aus der Türkei zu den griechischen Inseln oder zum Festland über. Vor der griechischen Hafenstadt Alexandroupolis griff die Küstenwache 46 Migranten auf. Sie waren von der nur wenige Kilometer entfernten türkischen Küste gestartet. Vor Lesbos wurden 131 Migranten entdeckt.
Einziger Garant, dass sich nicht wieder Tausende Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machen, ist das Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei und der EU. Seit März 2016 versorgt die Türkei über drei Millionen syrische Flüchtlinge im Land. Dafür wurden der Türkei sechs Milliarden Euro Unterstützung zugesagt, 2,6 Milliarden davon bereits ausgegeben. Die Bruchstellen dabei: Jeden Tag kommen trotzdem im Schnitt mehr als hundert Flüchtlinge in Griechenland an. Die Mehrheit auf den Inseln Lesbos, Samos und Kos. Die dortigen Registrierungslager sind hoffnungslos überfüllt. An die 20.000 Menschen sind derzeit dort untergebracht – bei einer Kapazität für nur knapp 9.000 Insassen.
Katastrophale Zustände, die man in Brüssel hinter vorgehaltener Hand, durchaus auch der früheren griechischen Regierung anlastet: Asylverfahren etwa dauern in Griechenland bis zu zwei Jahre. „Und Abschiebungen in die Türkei, wie es im Abkommen mit Ankara eigentlich vorgesehen sind, wollte die Regierung von Ex-Premier Tsipras ohnehin kaum machen. Das war für die Syriza-Regierung nicht opportun“, schildert ein EU-Beamter in Brüssel dem KURIER. Die Fakten: In den dreieinhalb Jahren seit Bestehen des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals wurden 1.892 Personen von Griechenland in die Türkei zurückgeschoben.
Die neue konservative Regierung von Premier Kyriakos Mitsotakis hat unterdessen versprochen: Die Asylverfahren sollen extrem beschleunigt und die Meeresgrenzen zur Türkei besser kontrolliert werden. Nach den geltenden Regeln in der EU müssten alle in Griechenland ankommenden Flüchtlinge hier um Asyl ansuchen, weil es das erste EU-Land ist, dessen Boden sie betreten.
Ein Gutteil der Asylsuchenden tut dies auch – und bleibt dennoch nicht. Beim Besuch eines Flüchtlingslagers nahe Athen wurde der KURIER Zeuge: Bei der wöchentlichen Zählung der Insassen, erzählt ein Lagerbetreuer, „fehlt jedes Mal ein Zehntel der Leute.“
Für die syrischen Flüchtlinge in der Türkei wird die Lage indes immer schwieriger: Bis zum 20. August sollen Syrer, die in Istanbul leben, in jene türkischen Provinzen zurückkehren, in die sie eingereist waren. Wer das illegal getan hat, soll abgeschoben werden.
3,6 Millionen leben Schätzungen zufolge in der Türkei, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. Zwar hatte der türkische Staastchef Recep Tayyip Erdoğan die Schutzsuchenden Anfangs noch als Gäste willkommen geheißen, doch im Laufe der Jahre hat sich die Stimmung in der Bevölkerung gedreht: 90 Prozent unterstützen die Flüchtlingspolitik Ankaras nicht. 2016 waren es noch 58 Prozent.
Der Stundenlohn sinkt durch Schwarzarbeit, die Wirtschaftskrise im Land trägt ihren Teil dazu bei, dass viele Türken die Syrer als ernsthafte Konkurrenten am Arbeitsmarkt sehen.
Druck auf Erdoğan
Erdoğans Ruf nach panislamischer Solidarität verhallt – der neue Istanbuler Bürgermeister, Ekrem Imamoglu, hat seinen Wahlsieg zu einem großen Teil seiner Anti-Flüchtlingspolitik zu verdanken. Medienberichten zufolge wurden bereits illegal eingereiste Syrer aufgegriffen und abgeschoben, die türkische Regierung dementiert dies. Die neuen Entwicklungen könnten auch dazu führen, dass der EU-Türkei-Deal in Frage gestellt wird. Abschiebungen ins Kriegsgebiet – das passt nicht zu einem sicheren Drittstaat, als der die Türkei (noch) gilt.
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