EU-Kommissar: "Wir können Russland diesen Krieg nicht gewinnen lassen"
Ein europäisches Ölembargo gegen Russland ist noch nicht durchgesetzt, da wird schon der Ruf nach noch härteren Maßnahmen laut. EU-Vizekommissionspräsident Maros Sefkovic gibt im Interview zu bedenken: „Die Sanktionen dürfen uns nicht schmerzhafter treffen als Russland.
KURIER: Gibt es Rote Linien, über die Europa bei ihrer Unterstützung für die Ukraine nicht mehr mitkann?
Maros Sefkovic: Seit Kriegsbeginn haben wir nie dagewesene Schritte gesetzt. Wir frieren das Vermögen von Putin-Vertrauten ein. Das bisher jüngste, sechste Sanktionspaket enthält ein Ölembargo. Es gibt Milliarden-Hilfen aus dem EU-Budget für die Ukraine. Wichtig ist: Wir können Russland diesen Krieg nicht gewinnen lassen, weil es auch unsere Leben, unseren Wohlstand, unsere Werte, unsere Zukunft bedrohen würde.
Und die nächsten Schritte?
Welche präzisen Parameter es gibt, die wir nicht setzen können, lässt sich derzeit noch nicht sagen. Auf alle Fälle müssen wir geeint bleiben, das ist wichtiger als Schnelligkeit. Aber wir müssen auch wirtschaftlich stark bleiben - auch um die Unterstützung der öffentlichen Meinung weiter zu erhalten. Denn das ist jetzt für jeden Regierungschef schwierig, die Inflation, die steigenden Lebensmittelpreise, die hohen Energiekosten zu erklären.
Wir müssen unsere Antworten auf Russland so kalibrieren, dass die Sanktionen uns nicht schmerzhafter treffen als Russland, und sie müssen zu einem Sieg der Ukraine beitragen.
Wäre ein europäisches Gasembargo gegen Russland solch ein Schritt, der uns selbst härter treffen würde?
Das käme darauf an, wie und wann man es umsetzt. Die EU-Staaten haben sehr unterschiedliche Voraussetzungen. Österreich und die Slowakei etwa waren bisher auf der Verteilerseite – und jetzt, von einem Moment auf den nächsten, könnten wir auf der anderen Seite der Versorgerkette landen.
Was absolut notwendig ist und Effekte mildern würde, ist Solidarität unter den EU-Staaten. Das hieße, dass dann die Staaten, die jetzt das Öl oder Gas zuerst erhalten, es dann mit den anderen teilen. Österreichs Chemie- und Ölindustrie hat sich seit Jahrzehnten auf der Basis von russischem Rohöl entwickelt, es gab also einen speziellen technischen Prozess, und jetzt braucht es Geld und Zeit, um sich umzuorientieren.
Aber es geht um das Signal an Russland: Wir, euer größter Kunde, wollen eure Kriegsmaschine nicht mehr mitfinanzieren. Bis Jahresende will die EU ihre Energieimporte aus Russland um zwei Drittel reduziert haben.
Ist es in Ordnung, dass Staaten wie Ungarn eine Kompensation wollen für ihre Verluste beim Ölgeschäft?
Wir in der Kommission wissen, was wir den Staaten abverlangen. Jedes Land hat seine spezielle Situation und seine spezielle Industrie. Und wir hatten für heuer ganz andere Erwartungen: Ein großes Wirtschaftswachstum, Erholung nach Covid-19, aber jetzt haben wir mit diesem grauenhaften Krieg in der Ukraine zu tun. Wichtig ist die Richtung, die wir gehen müssen: Die Reduzierung der Abhängigkeit von Russlands Energie.
Wird sich das Ölembargo durchsetzen lassen?
Ja, wenn wir als EU gemeinsam mit dieser Maßnahme antworten, wäre es die beste Antwort auf den 9. Mai – die russische Siegesparade auf dem Roten Platz. Also ehrlich, ich frage mich, was es da zu feiern gibt.
Sie waren als früherer Energie-Kommissar oft in Moskau und haben dort verhandelt. Was waren Ihre Eindrücke?
Ich habe meist mit Minister Novak verhandelt, er ist der derzeit für Energiefragen zuständige russische Vize-Premier. Wir hatten immer diese nervenaufreibenden, extrem schwierigen, spannungsgeladenen Diskussion zu den Jahresenden, wie der Gastransit durch die Ukraine erhalten werden kann. Der ist extrem wichtig für die Gasversorgung von Zentral- und Osteuropa. Für die Wirtschaft der Ukraine war es auch wichtig, sie bezog bisher zwei Milliarden Dollar pro Jahr für diesen Transit.
Ende 2019 haben wir dann einen europäisch-ukrainischen-russischen 5-Jahresvertrag ausgehandelt – aber der gilt jetzt wohl nicht mehr, zumal schon Bulgarien und Polen das Gas abgedreht wurde.
Haben Sie auch Putin getroffen?
Einmal hatte ich die Gelegenheit, mit Putin über diesen Vertrag zu sprechen. Er wusste jedes Detail, und es war klar, dass es seine Anweisungen für den Deal waren, nach denen letztlich vorgegangen wurde. Aber jetzt sind wir in einer ganz anderen Situation. Worauf Russland immer gepocht hat, dass es nämlich ein verlässlicher Energielieferant ist, gilt nicht mehr.
Wenn man Panzer ins Nachbarland schickt; wenn man Verträge missachtet, indem man plötzlich Zahlungen in Rubel verlangt; wenn man das ganze Jahr lang schon Markt manipuliert, indem man weniger Gas liefert und die Preise explodieren, kann man rückblickend nur den Schluss daraus ziehen, dass sie schon im Vorjahr begonnen haben, sich für den Krieg vorzubereiten.
Der Vize-Präsident der EU-Kommission und langgedienter Karrierediplomat wollte 2019 Präsident der Slowakei werden. Doch der 55-jährige Sozialdemokrat mit großer Begeisterung für Basketball unterlag in der Stichwahl der heutigen Staatschefin.
Sefkovic ist der längstdienende EU-Kommissar, seit Anfang 2009 ist der dreifache Familienvater mit dabei. Der jovial auftretende und kaum aus der Ruhe zu bringende Technokrat gilt als eisern in der Sache.
In der aktuellen Kommission ist Sefkovic zuständig für die auf Europa zukommenden Entwicklungen, den Brexit und die nicht unschwierigen Beziehungen der EU zur Schweiz.
Bis zu seiner Ankunft in Brüssel 2009 durchlief der fließend Englisch, Russisch und Französisch sprechende EU-Kommissar diverse Botschafterposten. Nach seinem Jus-Studium in Bratislava absolvierte er eine weitere, fünf Jahre dauernde Ausbildung am am Staatlichen Moskauer Institut für internationale Beziehungen studiert, der Diplomaten-Kaderschmiede in der damaligen Sowjetunion.
Muss oder kann die EU oder der Westen Putin irgendetwas anbieten, um den Krieg zu beenden?
Diese Frage muss man den Ukrainern stellen. Was gerecht und fair ist, müssen sie entscheiden. Ich habe vor einigen Wochen versucht, den Kreml zu erreichen – und erhielt als Antwort nur absolute Stille.
Soll die Ukraine in die EU aufgenommen werden? Würde ihr das helfen?
Es ist Zeit für starke politische Botschaften und klare Signale. Die Ukrainer wissen, wie ein EU-Aufnahmeprozess verläuft. Wir sagen: Ihr seid Teil der Familie, wir wollen euch drinnen haben – damit ist die endgültige Richtung klar. Wir müssen jetzt politisch sein, mit einer symbolischen Botschaft: Wir fühlen mit Euch, wir wollen Euch beim Wiederaufbau helfen, wir sehen Euch als europäisches Land. Wir wollen aber auch helfen, Euer Land zu reformieren, damit ihr bereit werdet für eine EU-Mitgliedschaft.
Praktisch gesehen behandeln wir sie schon als ein Familienmitglied: Wir haben ein Handelsabkommen, wir haben 5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, wir haben sie in unser Elektrizitätsnetz hereingeholt und vieles, vieles mehr. Was sie jetzt brauchen, ist die Versicherung, dass sie willkommen sind.
Winkt also demnächst der EU-Kandidatenstatus für die Ukraine?
Kommissionspräsidentin von der Leyen hat versprochen, dass es eine baldige Antwort geben wird. Dann müssen noch die EU-Staats- und Regierungschefs entscheiden.
Wäre es nicht extrem unfair, der Ukraine den Kandidatenstatus zuzugestehen, während Nordmazedonien und Albanien seit Jahren darauf warten?
Sie haben recht, die Frage der Erweiterung liegt jetzt auf dem Tisch. Wir müssen einen Kreis von Freunden und Alliierten bauen. Ich weiß, dass es ein österreichisches Engagement ist, die Westbalkanstaaten in die Union zu holen. Wir müssen in Europa strategisch in die Stabilität investieren, und das ist in dieser Situation ist es noch viel dringender geworden.
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