EU-Beitritt im Schnelldurchlauf? Wie die Chancen der Ukraine stehen
Bei ihrem Überraschungsbesuch in Kiew hatte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ein Gastgeschenk mitgebracht: Einen Fragebogen. Den muss jedes Land ausfüllen, das einen Antrag auf einen EU-Beitritt stellen will. Andere Staaten hätten dafür Jahre gebraucht, sagte der ukrainische Staatschef Wolodimir Selenskij in seiner jüngsten Videobotschaft, "bei uns war es nur etwas mehr als eine Woche." Der Antworten umfassen allerdings nur den ersten Teil des Fragebogens. Ein zweiter Teil wird in den kommenden Wochen erwartet.Die kriegserschütterte Ukraine hat es eilig mit einem EU-Beitritt, der ihr mehr Sicherheit und langfristig größeren Wohlstand bieten würde.
Ostoffensive: Ukraine wehrt sich
Doch wie schnell kann es gehen, während andere Staaten seit Jahrzehnten auf einen Beitritt warten? Und erfüllt die Ukraine überhaupt die wichtigsten Voraussetzungen? Die wichtigsten Fragen und Antworten..
Welche Kriterien muss ein Land für eine EU-Mitgliedschaft erfüllen?
Jedes demokratische europäische Land darf im Grunde einen Antrag stellen – weil es eben nicht zu Europa gehört, wurde Marokkos Antrag Ende der 1980er-Jahre zurückgewiesen. Es muss die gemeinsamen Werte achten, die Menschen- und Minderheitenrechte wahren. Seine Wirtschaft muss so stark sein, dass es dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standhält. Seine Institutionen müssen stabil sein, der Rechtsstaat funktionieren. Und es muss sich verpflichten, die gemeinsamen Vorschriften, Normen und Maßnahmen zu übernehmen.
Erfüllt die Ukraine diese Kriterien?
Das derzeit allergrößte Hindernis: Die Ukraine ist im Krieg – und von ernst zu nehmenden Beitrittsverhandlungen kann so keine Rede sein. Zudem galt die Ukraine bisher als eines der korruptesten Länder Europas. Oligarchen nahmen Einfluss auf die Politik. Die Wirtschaft ist schwach, der Rechtsstaat ebenso. Angesichts dieser schlechten Voraussetzungen hatte Brüssel im Herbst noch abgelehnt, über ein Beitrittsangebot überhaupt zu reden.
Warum also jetzt das Angebot für einen Beitritt?
Es kam vor allem von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und hat wohl vor allem symbolische Bedeutung: Die EU will die Ukraine unterstützen, ihr so weit wie möglich die Hand reichen – mit Geld, mit Waffen, mit Wiederaufbauhilfen und der Perspektive, sich eines Tages als EU-Mitglied aus dem russischen Einflussbereich zu entfernen.
Müsste die EU der Ukraine dann beistehen, sollte es als Mitgliedsland erneut von Russland angegriffen werden?
"Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung." So heißt es in den EU-Verträgen (Artikel 42, Absatz7). Dieser Beistand muss nicht zwingend militärisch sein, er könnte sich auch auf rein zivile Maßnahmen beschränken. Sicher aber ist: Die EU würde mit dem einem EU-Mitglied Ukraine Russland feindlicher gegenüber stehen.
Wie läuft so ein Beitrittsprozess ab?
Kurz nach Beginn der russischen Invasion hat die Ukraine bereits offiziell ihren Beitrittsantrag gestellt. Georgien und die Republik Moldau folgten Anfang März. Die EU-Kommission muss die Anträge nun prüfen und den EU-Regierungen empfehlen, dem Antrag zuzustimmen.
Und geht das jetzt wegen des Krieges für die Ukraine im Eilverfahren?
Normalerweise dauert die Bewertung der Beitrittsreife mindestens ein Jahr. Jetzt aber ist in Brüssel zu hören, dass schon beim EU-Gipfeltreffen im Juni die Empfehlung der EU-Kommission auf dem Tisch liegen könnte – das wären dann nur drei Monate.
Und bei wem liegt letztlich die Entscheidung?
Bei den 27 EU-Regierungen, und sie müssen einstimmig entscheiden. Hier liegt auch die größte Hürde für die Ukraine: Nur einige osteuropäische Staaten machen Druck auf einen schnellen Beitritt der Ukraine; doch die Mehrheit der Staaten stemmt sich dagegen.
Hinter den Kulissen war zu erfahren, dass sich Kommissionschefin Von der Leyen mit ihrem Vorpreschen heftige Kritik von einigen Regierungen eingehandelt hat. Sie bestehen auf Einhaltung der üblichen Beitritts-Prozedur.
Kann es denn keine Ausnahme für die Ukraine geben?
Rechtlich gesehen ist ein Eilverfahren nicht möglich, das geben die EU-Verträge nicht her. Als politische Willensbezeugung könnte der Ukraine der Status als Beitrittskandidat zuerkannt werden – doch selbst das ist eher unwahrscheinlich. Und es würde auch noch nicht bedeuten, dass automatisch Beitrittsverhandlungen beginnen. Von einem Beitritt ganz zu schweigen. Und es wäre ein kapitaler Affront gegenüber den anderen Ländern, die der EU beitreten wollen.
Wer wartet – und wie lange schon?
Die Türkei stellte vor mehr als 35 Jahren ihren Beitrittsantrag, erhielt 1999 den Kandidatenstatus und begann 2005 mit den Verhandlungen. Diese sind seit einigen Jahren eingefroren- und die Chancen für ihre Wiederaufnahme stehen wegen des autoritären Kurses von Präsident Erdogan bei null. Serbien und Montenegro verhandeln seit Jahren mit Brüssel – der einst mögliche Beitrittstermin 2025 ist nunmehr illusorisch.
Und Albanien sowie Nordmazedonien, die zwar vor drei Jahren EU-Kandidatenstatus erhielten, haben noch immer kein grünes Licht aus Brüssel für den Start von Beitrittsverhandlungen.
Wer ist zuletzt der EU beigetreten?
Das war Kroatien, im Juli 2013 – zehn Jahre nach seinem Antrag auf Mitgliedschaft.
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