„Dieses außenpolitische Hü-Hott ist ein wesentliches Merkmal von Erdoğans Außenpolitik. Natürlich sind seine jüngsten Äußerungen und Taten ein Affront gegenüber Russland, allerdings hat Erdoğan damit die Möglichkeit genutzt, im Westen aufzuzeigen, zu signalisieren, dass die Türkei als NATO-Mitglied Teil des Westens ist“, sagt Walter Feichtinger Präsident des „Center für Strategische Analysen“ (CSA) zum KURIER.
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Atomkraft für die Türkei
Nicht zuletzt habe er damit innenpolitisch die türkische Seele beruhigt, seinen Landsleuten gezeigt, dass ohne die Türkei nichts ginge. Gleichzeitig will der Brigadier in Ruhe diese Signale nicht überbewerten: „Ich würde das nicht als eine dauerhafte Wende gegen Russland verstehen. Dazu ist Moskau für Ankara zu wichtig.“ Knapp zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl im Frühling ließ Erdoğan etwa das Atomkraftwerk Akkuyu (das erste in der Geschichte der Türkei) einweihen, das mit großer Unterstützung Russlands gebaut wird und künftig zehn Prozent des türkischen Energiebedarfs decken soll. Zumindest zu Beginn soll es von einem russischen Unternehmen betrieben werden.
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Gleichzeitig laufen zwei russische Gaspipelines in die Türkei. Nicht nur in energiepolitischen Fragen arbeiten beide Staaten eng zusammen: Türkische Bauunternehmen spielen in Russland eine große Rolle und vor allem russische Touristen sind wichtig für die türkische Wirtschaft.
Parallelimporte
Alles in allem wäre es Moskau ein Leichtes, etwa den Tourismus in die Türkei zu stoppen – wie es bereits 2016 passierte, nachdem die türkischen Streitkräfte ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen hatten. Gerhard Mangott hält dies jedoch für weniger realistisch: „Russland wird auch vorsichtig sein, Erdoğan für diese Annäherung zu bestrafen, weil das der größte Vorteil, den Russland derzeit aus der Türkei zieht, ist, dass die Türkei keine Sanktionen gegen Russland verhängt hat und dass über die Türkei sogenannte Parallelimporte stattfinden“, sagt der Politikwissenschaftler und Russland-Experte im KURIER-Gespräch.
„Das bedeutet, türkische Unternehmen kaufen sanktionierte Güter aus der EU oder den USA und exportieren diese dann nach Russland“, erklärt er. Auch die russische Rüstungsindustrie benötige die Importe unbedingt. „Russland wird die Türkei deswegen sicherlich nicht hart bestrafen“, schließt Mangott. Derzeit nützt Erdoğan die deutliche Hinwendung zur NATO definitiv: Das Ja zu Schwedens NATO-Beitritt soll mit der Zusage der USA, bald F-16-Kampfjets in die Türkei zu liefern, versüßt worden sein.
Der US-Journalist Seymour Hersh will dazu herausgefunden haben, dass Biden Erdoğan einen Kredit in Höhe von 13 Milliarden Dollar zugesagt haben soll. Dieser Kredit wäre ein Segen für die schwankende türkische Wirtschaft. Dass Erdoğan in puncto Getreideabkommen die Flinte ins Korn wirft, ist ebenfalls nicht abzusehen: Er werde sich mit seinem „Freund Putin“ baldigst treffen und über den Deal beraten. Am Dienstag telefonierten bereits die Außenminister beider Staaten miteinander.
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