Schwieriges bis eisiges Klima: Was Europa nach Erdoğans Sieg erwartet
Hinter den Kulissen, in den Chefbüros der EU und der NATO in Brüssel, hatte man es schon nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in der Türkei befürchtet. Der endgültige Sieger dürfte Recep Tayyip Erdoğan heißen. So kam es: In der Stichwahl am Sonntag holte Erdogan 52 Prozent der Stimmen, sein Herausforderer, Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu, rund 48 Prozent.
"Five more years" - "fünf weitere Jahre"- heißt nun die Losung in Europas Hauptstadt Brüssel, was so viel bedeutet wie: Erneut fünf schwierige Jahre mit dem unberechenbaren, zunehmend europafeindlich agierenden, erratischen, aber unverzichtbaren Partner Türkei.
➤ Kommentar zur Türkei-Wahl: Waren wir naiv? Nein, realistisch!
- Die NATO und der Beitritt Schwedens
- Vermittler im Ukraine-Krieg
- Der Flüchtlingsdeal
- Abbruch der EU-Beitrittsgespräche
Erste europäische Gratulationen für den wiedergewählten Präsidenten trudelten Sonntagnacht ein, doch verhaltener hätten sie kaum ausfallen können: „Ich freue mich, unsere Arbeit zusammen fortzusetzen und den NATO‐Gipfel im Juli vorzubereiten“, schrieb etwa Jens Stoltenberg trocken auf Twitter.
Schweden hofft
Der NATO‐Generalsekretär wartet ungeduldig auf ein Zeichen des Entgegenkommens aus der Türkei. In sechs Wochen kommt das Militärbündnis zu seinem Gipfeltreffen zusammen, und spätestens dort hoffte die NATO, endlich Schweden als neues Mitglied aufnehmen zu können.
Doch die Türkei blockiert den Beitritt Schwedens noch immer und fordert Zugeständnisse in der Terrorismusbekämpfung. Gäbe Erdoğan, gestärkt durch seinen Wahlsieg, nun grünes Licht für Stockholm, wäre dies ein erstes Zeichen, dass der wiedergewählte Präsident im dritten Jahrzehnt seiner Amtszeit auf einen neuen Kurs größerer Kompromissbereitschaft einschwenken könnte.
Doch nichts deutet darauf hin: NATO-Diplomaten sehen den türkischen Kurs gegen Schweden als die persönliche Launenhaftigkeit Erdoğans an. "Und so lange er glaubt, mit seinem Veto mehr herausholen zu können, so lange wird er dabei bleiben", vermutet ein NATO-Beamter.
Die Beziehungen zwischen der EU, NATO und USA mit der Türkei werden schwierig bleiben, abbrechen werden sie nicht. Die Türkei ist ein strategisch unverzichtbares Mitglied an der südöstlichen Flanke der NATO.
Sie ist die letzte Barriere vor dem unruhigen Nahen Osten, Auge und Ohr für die dortigen Entwicklungen - zuletzt aber auch immer mächtigerer Player in der Region.
Vermittler im Ukraine-Krieg
Ihre gewachsene Bedeutung spiegelt sich auch in der türkischen Rolle als Vermittler im Ukraine-Krieg wider. Der Getreide-Deal, der es ermöglichte, von Russland blockierte Schiffsladungen aus der Ukraine in die Welt zu transportieren, kam nur mit wesentlicher Unterstützung durch Ankara zustande.
Und obwohl nicht gerade beste Freunde, so hegen die beiden Autokraten Erdoğan und der russische Präsident Wladimir Putin doch passabel gute Beziehungen. Will Europa also Russland erreichen, wird es künftig den türkischen Präsidenten brauchen.
Der Flüchtlingsdeal
Wichtiger als alles andere ist der EU der Erhalt des Flüchtlingsdeals mit der Türkei. Rund 3,4 Millionen Syrer hat das Land seit 2016 aufgenommen. Für ihre Versorgung zahlt die EU Milliarden. Im Gegenzug hat sich die Türkei verpflichtet, die Flüchtlinge nicht nach Europa weiter ziehen zu lassen.
Schon vor seinem Wahlsieg hatte Erdoğan immer wieder gefordert, dass der Deal mit Brüssel nachverhandelt werden - und Brüssel mehr zahlen müsse.
Dass Erdoğan dabei ein gewaltiges Druckmittel in der Hand hält, hat er Anfang 2020 bewiesen. Damals ließ er Zigtausende Flüchtlinge einfach in Bussen an die Grenze zu Griechenland schicken. In Brüssel weiß man nur zu gut, Schreckensbilder dieser Art kann der unberechenbare türkische Präsident jederzeit wieder auslösen.
Auch in den anderen Krisen mit der Türkei - Stichwort Zypern oder die Gasbohrungen in der Ägäis - erwartet sich Europa keine Entspannung.
Im Gegenteil: Der durch seinen Sieg gestärkte Präsident sieht sich in seiner kompromisslosen Haltung bestätigt. "Ohne irgendwelche Konzessionen an unsere Demokratie, Entwicklungen oder Ziele gemacht zu haben, haben wir das Tor zum türkischen Jahrhundert geöffnet", sagte Erdoğan unter dem tosendem Jubel seiner Anhänger Sonntagnacht. "Was habe ich Euch gesagt, wir werden bis ins Grab gemeinsam gehen."
An Erdogans Seite steht zudem das nationalistische Parlament in der türkischen Geschichte. Kehrtwendungen in Richtung mehr Konzessionen oder weniger außenpolitischer Angriffigkeit lässt das nicht erwarten.
Abbruch der Beitrittsgespräche
Doch nicht alle in Brüssel sehen die Wiederwahl Erdoğans nur als schlechte Nachricht. Die Europäische Union solle den Beitrittsprozess der Türkei beendet, fordert etwa der Fraktionsführer der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament, Manfred Weber: „Jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen für einen generellen Neustart zwischen der EU und der Türkei auf einer realistischen Grundlage“, sagte der CSU-Vizechef der Funke-Mediengruppe.
"Die letzten Jahre haben gezeigt, dass eine enge Partnerschaft wichtig ist, eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU allerdings niemand mehr will - weder die Türkei noch die EU“, sagte Weber. „Diesen Prozess müssen wir zu den Akten legen."
Nur zwei Jahre, nachdem Erdoğan als Premier erstmals an die Macht gekommen war, hat die EU Beitrittsgespräche mit Ankara aufgenommen. Damals galt der heute 69-Jährige noch als Hoffnungsträger.
Doch die Verhandlungen kamen nur schleppend in Gang. Als Erdogan schließlich sukzessive die bürgerlichen Freiheiten in der Türkei beschränkte, die Medien zensurierte und sich als Präsidialherrscher praktisch die alleinige Macht im Land sicherte, wurden alle Gespräche eingefroren. Ein EU-Diplomat: "So lange Erdoğan das Sagen hat, werden sie auch nie wieder auftauen."
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