Das Wohnhaus ist heute eine Ruine: Die Außenmauer fehlt, man blickt direkt hinein in die Zerstörung. Die Wände sind voller Risse, Schränke zusammengebrochen, der Boden voller Staub und Schmutz. Andere, einzelne Häuser stehen noch, sind aber 45 Grad zur Seite geneigt. Wieder andere sind einfach in sich zusammengeklappt. Von ihnen ist nur noch Schutt übrig.
"Über 96.000 Gebäude wurden zerstört oder schwer beschädigt. Noch immer sind 20 Prozent der zerstörten Gebäude nicht abgetragen", sagt der 58-jährige Lütfü Savaş, Oberbürgermeister von Hatay.
Leben zwischen Schutt und Containern
Hatay (wie eine Großstadt organisiert) ist eine jener Regionen, die von den verheerenden Beben am 6. Februar 2023 am stärksten betroffen waren. "Eine Fläche größer als Österreich hat gebebt. Wir mussten 20.000 Menschen begraben, den letzten vor einem Monat", sagt Savaş. Hunderttausende verloren ihr Zuhause. Diejenigen, die Verwandte im Rest des Landes hatten, sind weggezogen. Die, die nirgendwo anders hin konnten, leben heute in Containern.
Kurz nach der Katastrophe hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan versprochen, die Region innerhalb eines Jahres wieder zu errichten. "Ein leeres Wahlversprechen", sagt der Bürgermeister. "272.000 Wohnungen in einem Jahr zu bauen, das ist unmöglich."
Am 6. Februar 2023 erschütterten Beben der Stärke 7,8 und 7,5 den Süden der Türkei und den Nordwesten Syriens. Fast 60.000 Menschen starben, 51.000 in der Türkei, Millionen verloren ihr Zuhause. 311.000 Gebäude, darunter 872.000 Wohnungen, wurden laut Nachrichtenagentur Anadolu beschädigt oder zerstört. Besonders betroffen waren unter anderem die Regionen Hatay, Gaziantep, Kahramanmaraş, Osmaniye.
Der türkischen Regierung wird vorgeworfen, Sicherheitsvorschriften missachtet und Gelder zum Schutz vor Erdbeben missbraucht zu haben.
Die Schäden werden auf 118,8 Milliarden US-Dollar geschätzt, 104 Milliarden in der Türkei und 14,8 Milliarden in Syrien. Einige der zerstörten Städte zählten zu UNESCO Weltkulturerbe.
Drei Tage dauerte es, bis Hilfe ins Erdbebengebiet gelangte – offiziell, weil Straßen so zerstört waren. Manche orteten ein bewusste Nachlässigkeit: In Hatay leben Türken, Aleviten, Kurden, Armenier, unterschiedliche Konfessionen und Ethnien zusammen, wie kaum wo in der Türkei. "Das ist unser kulturelles Erbe. Ich glaube daran, dass für Allah alle Menschen gleich sind", sagt Savaş.
Gleichzeitig gab es Kritik am staatlichen Krisenmanagement und den Vorwurf, Gelder zum Schutz vor Erdbeben seien missbraucht worden: "Alle Hilfszahlungen sowie die Einnahmen der Erdbeben-Steuer gehen an den staatlichen Katastrophenschutz AFAD." Er selbst habe keinen Einblick in die Finanzströme und die Aufteilung des Geldes.
Savaş gehört zur oppositionellen, säkular-republikanischen CHP, ist seit 15 Jahren Oberbürgermeister von Hatay – fünf Jahre davon für Erdoğans AKP. In der Türkei ist es nicht unüblich, dass Politiker die Partei wechseln. Savaş beschriebt sich als "Fan des Republikgründers Atatürk": "Ich wollte, dass sich die Türkei weiterentwickelt, sowohl wirtschaftlich als auch sozial. Unter der AKP war das nicht länger möglich", erklärt er seinen Parteiwechsel 2014.
Savaş war als Gast des Vereins zur Förderung des Gedankenguts Atatürks in Österreich anlässlich des 100. Jahrestags der Republik in Wien geladen. "Natürlich wäre ich zufriedener, wenn dieses Jubiläum unter einem Präsidenten Kemal Kılıçdaroğlu (CHP-Oppositionsführer, Anm.) gefeiert worden wäre. Die CHP ist die Partei Atatürks. Wäre ich zufrieden mit dem Weg, den die Türkei eingeschlagen hat, wäre ich bei der AKP geblieben."
Gegenüber syrischen Flüchtlingen vertritt Savaş einen ähnlich harten Kurs wie Kılıçdaroğlu. Dieser hatte vor der Präsidentschaftswahl mit dem Versprechen, "alle syrischen Flüchtlinge abzuschieben", geworben. "Ein Drittel der Bevölkerung in Hatay sind syrische Flüchtlinge. Das stellt uns vor wirtschaftliche und soziale Herausforderungen. Wenn Frieden in ihrem Land herrscht, ihr Zuhause wieder aufgebaut ist, sollen sie dorthin auch zurück."
Im Frühling finden Kommunalwahlen in der Türkei statt. Savaş ist sich seiner Wiederwahl sicher: "Wir werden Hatay aufbauen. Man wird uns nicht vergessen."
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