Brandmauer gegen Rechtspopulisten? - "Schwer aufrecht zu erhalten", sagt der Experte
KURIER: Fast jedes europäische Land hat jetzt eine rechtspopulistische oder rechtsextreme Partei. Trotz aller speziellen Bedingungen und Umstände in diesen Ländern haben diese Parteien sicherlich etwas gemeinsam. Was genau?
Endre Borbáth. Seit den 1990er Jahren sehen wir einen wachsenden Stimmenanteil für solche Parteien. Ein Teil der Erklärung liegt im Globalisierungsprozess. Wirtschaften, die früher stärker auf nationaler Basis organisiert waren, haben ihre Produktions- und Lieferketten für den globalen Handel geöffnet. Einige Menschen verlieren dadurch, während andere gewinnen. Diese Gewinner-Verlierer-Dynamik spiegelt sich in der Politik wider. Radikale rechte Parteien sind die politischen Vertreter der Gruppen, die durch diese Transformation verloren haben. Was diese Parteien in verschiedenen Ländern verbindet: Sie positionieren sich sehr stark gegen Einwanderung – und stehen auch der europäischen Integration sehr skeptisch gegenüber. In letzter Zeit wurden zwei weitere Themen in ihr Repertoire aufgenommen: Gender- und LGBTQI-Rechte sowie die Skepsis gegenüber dem Kampf gegen den Klimawandel.
In Österreich haben wir jetzt fast 30 Prozent für die rechtspopulistische FPÖ. Ist das das Limit, oder könnte es noch mehr werden?
Lange Zeit hieß es, diese Parteien seien bei 10 Prozent begrenzt. Dann bei 20 Prozent. Zum Beispiel sagte man in Deutschland, dass eine Partei wie die AfD aufgrund der Geschichte des Faschismus niemals ins Parlament kommen würde.
Was sich nachweislich als falsch erwiesen hat
Sehr schwer zu sagen, ob 30 Prozent das Limit der FPÖ wären. Momentan sehen wir, dass die 28,8 Prozent der FPÖ einer der höchsten Stimmenanteile ist, die Rechtspopulisten jemals in Westeuropa erreicht haben. Aber je normalisierter deren Positionen werden – wie die Anti-Immigrationshaltung oder die Skepsis gegenüber der europäischen Integration –, desto erfolgreicher werden diese Parteien. Es gib keine Regel, die besagt, dass sie nicht noch mächtiger werden können.
Warum wählen so viele junge Leute diese Parteien?
Die Welt, in der junge Menschen aufwachsen, ist stark von diesen Prozessen – der Globalisierung, den offenen Grenzen – geprägt. Sie denken nicht so sehr in den Kategorien, die ältere Generationen politisch sozialisiert haben. Traditionell waren grüne Parteien, die die kosmopolitische, progressive Seite repräsentieren, bei jungen Menschen früher populärer, ebenso wie die radikale Rechte. Sie haben auch weniger Vertrauen in die etablierten politischen Eliten.
Wollen rechte Parteien die Demokratie abschaffen? Ist das ihr Ziel?
Die rechtpopulistischen Parteien, die an die Macht gekommen sind, zum Beispiel in Österreich, kamen oft als Teil von Koalitionen in die Regierung. Teil einer Koalition zu sein, schränkt ihre Möglichkeiten ein, die Demokratie grundlegend zu verändern. Was wir jedoch sehen, ist, dass in Ländern, in denen rechtsnationalistische Parteien ohne Koalitionspartner an die Macht gekommen sind – zum Beispiel Trump in den USA, Viktor Orbán in Ungarn oder die PiS in Polen – diese Parteien die Demokratie tatsächlich verändern. Was bedeutet das? Sie haben ein ausgeprägtes Mehrheits-Verständnis von Demokratie. In ihrer Auffassung es gibt kein Konzept von Minderheitenrechten, das über dem Willen der Mehrheit steht.
Wenn die Mehrheit beschließt, keine Immigranten zu wollen, gibt es keine Menschenrechte oder Asylrechte, die dem entgegenstehen. Wer die Wahlen gewinnt, hat nach ihrer Sicht das Recht, das System nach seinen Vorstellungen zu verändern.
Deshalb sehen wir, dass Politiker wie Viktor Orbán oder Trump große Probleme mit der Bürokratie und den Institutionen des Staates haben und versuchen, diese Institutionen zu erobern, um ihre Ziele durchzusetzen. In ihrem Weltbild bedeuten Checks and Balances wenig. Sie sehen ihre Wahlergebnisse als Mandat für nahezu unbegrenzte Macht.
Das ist Orbáns „illiberale Demokratie“?
Wir müssen ihn beim Wort nehmen. Es ist tatsächlich eine illiberale Auffassung von Demokratie. Sobald diese Parteien nicht mehr Teil einer Koalition sind, sehe ich die Gefahr, dass sie versuchen würden, eine solche Vision umzusetzen.
Natürlich ist es in der Europäischen Union viel schwieriger, weil es neben der nationalen Struktur auch eine europäische Struktur gibt, die respektiert werden muss. Wir sehen das jetzt in den Niederlanden, wo der Regierungschef Schwierigkeiten hat, die Asyl- oder Einwanderungsgesetze zu ändern, weil vieles von den europäischen Partnern abhängt: In gewisser Weise ist die EU die letzte Kontrollinstanz gegenüber Orbáns Macht. Ohne die EU wäre die Situation in Ungarn viel schlimmer
Ist Orbán der Prototyp eines erfolgreichen Populisten oder rechtspopulistischen Führers?
In gewisser Weise könnte man das so sagen. Aber man muss auch bedenken, dass Ungarn eine junge Demokratie ist, die erst 1989 entstanden ist. Es gab keine Revolution, sondern eine Verhandlung am runden Tisch zwischen den alten und neuen Eliten. Sie einigten sich auf die neuen Spielregeln des Landes und schufen dieses System.
Dann kam ein talentierter Politiker wie Orbán und schaffte es, das System nach seinen Vorstellungen zu gestalten. In älteren Demokratien wie Österreich, der Schweiz oder Deutschland, die seit dem Zweiten Weltkrieg existieren und eine viel längere demokratische Tradition haben, sind die Institutionen stärker.
Dort ist es schwieriger, das Gleiche zu erreichen. Aber das bedeutet nicht, dass man sich nicht vor dem fürchten sollte, was Orbán getan hat.
Migration ist eines der großen Themen der rechtsradikalen Parteien. Angenommen, es gäbe weniger Migration – würden dann Populisten ihren Zulauf verlieren?
Die tatsächliche Zahl der Migranten und die Wahrnehmung von Migration gehen nicht immer Hand in Hand. Oft sind die Menschen, die sich am meisten Sorgen über Migration machen, diejenigen, die in Regionen leben, in denen es nur sehr wenige Migranten gibt. Die Menschen, die tatsächlich mit Migranten in Kontakt kommen, sind oft weniger skeptisch, weil sie persönliche Erfahrungen haben, auf die sie sich stützen können. Diese Wahrnehmung von Migration ist also in gewisser Weise von den realen Zahlen losgelöst und kann von rechtsextremen Parteien aufrechterhalten werden, auch wenn die tatsächliche Migration zurückgeht.
Zum Beispiel sind die Migrationszahlen in Ungarn viel niedriger als in jedem westeuropäischen Land, aber Migration ist nach wie vor ein großes Thema in der ungarischen Politik.
Es gibt auch eine andere Korrelation: Wenn Migration in den Medien und im Parteiensystem weniger thematisiert wird, verlieren die radikalen rechten Parteien an Unterstützung.
Gibt es ein Land in Europa, das immun gegen rechte Parteien ist?
In Irland spielt Migration im dortigen Parteiensystem keine so große Rolle, deshalb ist es dort für eine radikale rechte Partei schwierig, sich durchzusetzen. Aber komplett immun ist kein Land.
Was bedeutet das für die Europäische Union, wenn sich jetzt fast alle europäischen Länder nach rechts bewegen?
Wir sehen in gewisser Weise eine ähnliche Dynamik wie in der nationalen Politik. Es gibt immer noch eine starke Mehrheit der etablierten Parteien, die versuchen, an der Macht zu bleiben und den Status quo zu bewahren. Aber es gibt Herausforderer, und die kommen sowohl von links als auch von rechts, wobei die Herausforderung von der radikalen Rechten stärker ist. Diese Patriotische Allianz, zu der auch die FPÖ gehört, ist die drittstärkste Parteifamilie in Europa. Bis jetzt wurden sie aus den wichtigen Positionen im Europäischen Parlament herausgehalten. Das wird in Zukunft schwieriger werden, wenn sich der Trend fortsetzt.
Die Zeit ist nicht auf der Seite der Mitte. Das Problem ist, dass diese Parteien in einigen grundlegenden Fragen, wie etwa dem Krieg in der Ukraine, völlig andere Positionen vertreten. Sie sind sehr skeptisch, was die Unterstützung der Ukraine betrifft, sowohl finanziell als auch militärisch. Sie sprechen von Frieden, was im Grunde die Kapitulation der Ukraine bedeutet. Wenn diese Parteien an die Macht kämen ihre Vision durchsetzen könnten, würde das eine fundamentale politische Veränderung bedeuten. Sie wollen grundlegend andere Dinge.
Wo wird Europa angesichts dieses Trends in fünf, sechs Jahren stehen? Werden wir noch mehr rechte Parteien haben?
Ich würde sagen, ja. Diese Parteien werden ein fester Bestandteil der Politik. In Deutschland spricht man oft von der „Brandmauer“, also der Absicht, die AfD draußen zu halten. Aber das ist schwer aufrechtzuerhalten. Ich glaube, sie werden in Regierungskoalitionen integriert, so wie das in Österreich schon lange der Fall war. Das ist die Zukunft – dass sie Teil der politischen Landschaft in Europa werden.
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