"Vielleicht sind Rechtspopulisten sogar die neuen Volksparteien"
Der niederländische Polithistoriker und Regierungsberater René Cuperus hat schon vor Jahren das Phänomen Haider erforscht.
Populisten seien ein Produkte der etablierten Parteien, sagt er – aber es gebe Methoden, aus dem Populismus-Dilemma rauszukommen.
KURIER: Österreichs Bundespräsident steht vor der schwierigen Frage, ob er der FPÖ einen Regierungsauftrag geben soll – in den Niederlanden war das mit Wahlsieger Geert Wilders ähnlich. Was würden Sie Alexander Van der Bellen raten?
René Cuperus: Österreich steht vor einem Demokratiedilemma. Wie kann man die Demokratie verteidigen, indem man das Ergebnis von freien, demokratischen Wahlen blockiert? Will man Rechtsstaatlichkeit wahren und blockiert die FPÖ, läuft man Gefahr die Demokratie selbst zu beschädigen. Für die Rechtpopulisten ist es dann einfach zu sagen: Die wollen uns von der Macht fernhalten, mit unlauteren Mitteln.
Van der Bellen muss darum unparteiisch, über den Parteien stehend agieren. Das ist schwierig, weil er ein profilierter grüner Politiker ist. Er kann mit allem, was er tut, unabsichtlich die Polarisierung befeuern. Denn wir befinden uns in einem brenzligen Kampf zwischen Establishment und Anti-Establishment-Kräften.
Österreich gilt wegen Haider in den 1980ern im Ausland als Versuchslabor des Rechtspopulismus. Jetzt gibt es das Phänomen überall in Europa. Was ist da passiert?
Wir haben Österreich schon vor 20 Jahren erforscht, als wären wir auf einer politischen Safari. Rechtspopulismus war damals eine neue Spezies. Es war, als würde man in Afrika plötzlich eine neue Tierart entdecken (lacht). Später kam dann gleich Berlusconi, der wie die FPÖ gegen Eliten, Konkordanz, Demokratie wetterte. Schon damals fragten wir uns, wie Haider in einem modernen und prosperierenden Land wie Österreich Erfolg haben konnte, warum die Menschen so wütend waren.
Das ist noch immer eine gute Frage. Haben Sie eine Antwort gefunden?
Mehr oder weniger. Rechtspopulismus ist ja vor allem in eher reichen und glücklichen, europäischen Ländern verbreitet, neben Österreich in Schweden, der Schweiz, den Niederlanden. Ich nennen das die „Revolte im Paradies“ – die Umstände sind bestens, aber vor allem die untere Mittelschicht hat das Gefühl, dass dieses Paradies durch Globalisierung oder Migration in Gefahr ist. Diese Schicht merkt auch, dass der Wohlfahrtstaat nicht mehr effizient und solidarisch funktioniert, man fühlt sich betrogen – oft ja auch zu Recht.
Also ist richtig, was FPÖ, AfD und Wilders behaupten?
Die von den Populisten aufgezeigten Probleme sind real, aber ihre Antworten sind problematisch oder gefährlich. Populisten nutzen Unbehagen und Zukunftsunsicherheit aus. Aus diesem Grund sind die Volksparteien in der Krise, weil sie das nicht wahrnehmen. Österreich war eines der ersten Länder, wo die Volksparteien weggebrochen sind: Die Volksparteien SPÖ und ÖVP hatten Staat und Gesellschaft durchdrungen, Österreich war ein „Parteienstaat“. Und die, die nicht Teil dieses Systems waren, schauten durch die Finger – da hat Haiders Revolte angesetzt.
Daher sind auch die etablierten Parteien mitschuldig am Entstehen der populistischen Revolte. Sie hätten schon vor Jahren die Alarmglocken schrillen hören müssen.
Wie sollen die etablierten Parteien reagieren? Es scheint ja keine Strategie zu funktionieren, die Rechtspopulisten kleiner werden lässt.
Viele Parteien haben den Kontakt mit Teilen der Bevölkerung verloren, vor allem in der Peripherie. Populismus ist auch eine Revolte der Peripherie – sehen Sie sich Wien an, das völlig konträr zum ländlichen Österreich gewählt hat. Auch in den Niederlanden ist das so: Da revoltieren Menschen aus kleineren, ländlichen Städten und die schlechter Ausgebildeten gegen die akademischen Professionals in den Städten, im Ballungsraum Amsterdam-Rotterdam-Den Haag-Utrecht. Fast die Hälfte der Niederländer lebt dort und wird als elitär und arrogant wahrgenommen. Volksparteien garantierten früher die Verbindung zwischen Hoch- und Niedriggebildeten, Großstadt und Land, Peripherie und Metropole. Diese Verbindungen sind so gut wie verschwunden. Die Volksparteien müssen sich neu erfinden.
Und wie können sie das machen? Ohne die Agenda der Rechtspopulisten zu übernehmen, was wieder nur dem „Original“ nützt?
Zunächst müssen wir uns von der Idee verabschieden, dass Volksparteien aktuell noch Mitte-Parteien sind. Das sind sie nicht mehr, sie stellen für viele Elitenparteien dar. Viele Volksparteien sind reine Kampagnenparteien, Vorstandsparteien oder Regierungsparteien geworden. Dieses Modell funktioniert in der komplexen Gesellschaft von heute aber nicht mehr.
Dazu sind, wie gesagt, auch die Verbindungen zwischen Teilen der Bevölkerung verloren gegangen. Es gibt viel mehr Bubbles als früher, und die kommunizieren nicht miteinander – in der Kirche, in der Armee, in der Gewerkschaft oder in der Kneipe etwa trafen früher viele Bevölkerungsteile aufeinander, da gab es Austausch, das beförderte Akzeptanz. Das gibt es immer weniger.
Dazu kommt der Kulturkampf. Radikal sind nicht die Populisten-Wähler, die wollen ja, dass alles gleichbleibt oder zurückgedreht wird – radikal sind vor allem die Eliten, die gesellschaftliche Transformation (Klima, Gender, Digitalisierung) fordern. Aber man darf nicht vergessen: Nur eine Minderheit hat die Populisten gewählt – die Mehrheit hat gegen sie gestimmt.
Aber wie soll diese Wieder-Verbinden in einer fragmentierten Gesellschaft funktionieren?
Das ist die Frage. Ich erforsche einen Teil der Niederlande, die statt der Konservativen erstmals Wilders gewählt haben. Dort ist es die Überregulierung, die die Menschen ärgert, die Vorgaben bei Datenschutz, Klimaschutz, Sicherheit. Dass deshalb traditionelle Dorffeste abgesagt werden mussten, Pferderennen etwa, hat dort größeren Ausschlag gegeben als die Migration.
Die Menschen fühlen sich an den Rand gedrückt, ihrer Traditionen beraubt. Warum haben die Parteien - 40 Jahre nach Haider - nicht mit diesem Unbehagen umzugehen gelernt? Wenn das nicht passiert, sitzen die Rechtspopulisten demnächst in allen Regierungen Europas. Bisher sehe ich aber keinen Gamechanger.
Welche Rolle spielt Migration? Wäre das der Gamechanger?
Migration spielt eine große Rolle. Aber viele Parteien sind schizophren, was das Thema angeht: Die Rechtsparteien in den Niederlanden etwa stellen sich massiv gegen Migranten, zeitgleich fördern sie aber Arbeitsmigration für große Firmen – inklusive Arbeitskräfteausbeutung. Die Linken müssten das viel deutlicher kritisieren, wie heuchlerisch die Rechtsparteien bei dem Thema sind.
Dazu gibt es ein Verständnisproblem zwischen den verschiedenen Bubbles: Akademische Professionals haben nicht dieselben Erfahrungen mit Migration wie die niedrige Mittelschicht, für sie heißt „multikulturell“ etwas ganz anderes – vielsprachig zu sein und mit vielen Nationalitäten zusammenzuarbeiten etwa. Die andere Multikulturalität beinhaltet die Angst, von einer billigeren Arbeitskraft aus dem Ausland ersetzt zu werden, oder Verteilungskämpfe auf dem Wohnungsmarkt.
Aber es gibt ja Bedarf an Arbeitskräften aus dem Ausland. Wie soll man damit umgehen?
Migranten sind ja nicht nur sozioökonomische Subjekte, sie sind Menschen, die ihre Kultur und Familien mitbringen - und Gesellschaften verändern. Will man den Wohlfahrtsstaat erhalten und eine liberale Demokratie bleiben, muss man aufpassen: Menschen aus Autokratien muss gelehrt werden, was Rechte und Pflichten in einer liberalen Wohlstandsdemokratie sind. Da müsste viel investiert werden, aber wir sind viel zu nachlässig.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht gegen Migration. Es gibt viele Migranten, die perfekt integriert sind und einen wichtigen Beitrag in unserer Gesellschaft leisten. Aber auch die Parteien, die pro Migration sind, kümmern sich viel zu wenig um Integration – das ist aus soziologischer Sicht ein Himmelfahrtskommando. Cem Özdemir hat das erst kürzlich festgestellt, er ist immerhin ein Grüner.
Würden – in der Theorie - die Rechtspopulisten verschwinden, wenn es keine Migrationsprobleme mehr gäbe?
Migration ist ein Symbol für die Transformation der Gesellschaft. Die Herausforderung ist ja, Migranten zuzulassen, aber zugleich Europa zu bleiben, eine liberale, egalitäre „Mittelschichtgesellschaft“ zu bewahren, mit Frauen- und Homosexuellenrechten. Populisten stellen diese existenziellen Fragen, nicht umsonst ist der Spitzname der rechtsextremen AfD „Angst für Deutschland“.
Aber wissen unsere politischen Führungsfiguren, wie man diese Transformationen ausbalanciert? Ich arbeite mit diesen Menschen – und muss sagen: nein. Wir haben eine Manager-Klasse in der Politik, die nicht substanzorientiert arbeitet.
Gibt es ein Land in Europa, dass das einigermaßen gut macht?
Das dänische Modell sollte also unbedingt erwähnt werden. So viele Migranten zuzulassen, die man integrieren kann; so viele Flüchtlinge zuzulassen, wie man menschenwürdig unterbringen kann. Es ist eine Schande für unsere Gesellschaft, wenn Menschen auf der Straße schlafen müssen, wenn Migranten zu menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten müssen. Auch hier müssen wir europäische Ideale wahren.
Dabei gibt es gibt eine Monster-Allianz zwischen Moral und Markt: Linke Gesinnungs-Parteien fordern mehr Migration wegen der Menschenrechte, der Markt will mehr Migration, weil Arbeitskräfte fehlen. Worum sich aber niemand kümmert, ist der soziale Zusammenhalt.
Aber für mehr sozialen Zusammenhalt braucht es Geld - und viele Menschen, die dafür arbeiten.
In den ländlichen Gebieten, die ich erforsche, gibt es einen außergewöhnlichen Zusammenhalt. Es gibt dort eine starke Gemeinschaftskraft. Dort gilt die Regel: Wer neu hinzukommt und sich nicht engagieren will, bleibt halt draußen. Wer dabei sein will, muss mitmachen und Traditionen respektieren. Das führt jetzt – nach Corona – zu massiven Verwerfungen, weil Städter aufs Land ziehen und sich über die zu lauten Kirchenglocken oder Hühnergackern beschweren.
Aber es gibt Methoden, diverse Gesellschaften zusammenzubringen. Das funktioniert nicht immer spontan, manchmal braucht es dafür Experten. In diese Personen – Polizisten, Sozialarbeiter, Integrationsexperten - müsste viel, viel mehr Geld investiert werden. Gesellschaftsaufbau wird völlig unterschätzt, vor allem in komplexen, multikulturellen Gesellschaften. Viele Politiker und Entscheidungsträger übersehen das, wie sie selbst ihre eigenen Umfelder nie verlassen – und nur in ihren Büros hinter ihren Laptops sitzen.
Warum wählen die Menschen eigentlich angebliche Eliten-Kritiker, obwohl die selbst meist Teil der Elite sind? Donald Trump ist Milliardär, Alice Weidel ist Bankerin, lebt in der Schweiz und ist queer.
Das ist nur auf den ersten Blick irritierend. Populistische Wähler erkennen sich in politischen Unternehmern (oft von außerhalb der Politik) wieder, die von etablierten Politikern und Medien scharf angegriffen oder abgelehnt werden. Sie fühlen sich auch vom System im Stich gelassen oder verraten oder als Bürger zweiter Klasse im eigenen Land. Die Menschen fühlen sich selbst marginalisiert und mit diesen „Outlaw“-Politikern verbunden. Das ist trickreich: Je mehr wir auf Trump hinhauen, desto stärker machen wir ihn. Dadurch brauchen Populisten mittlerweile nicht mal mehr eine charismatische Führungsfigur – siehe Weidel oder Kickl. Es reicht schon, Outsider zu sein, als „armes“ Opfer eines Cordon sanitaire (Anm.: der Brandmauer der anderen).
Kann man diese Entwicklung irgendwie aufhalten? Oder werden die Spaltungen noch zunehmen?
In unseren westlichen Demokratien ist etwas kaputtgegangen, und das müssen wir reparieren. Das Timing dafür ist denkbar schlecht, weil wir uns diese verwundbare Lage im Wettbewerb mit Autokratien wie China und Russland nicht leisten können: Wir Europäer sind gerade sehr polarisiert und fragmentiert, und schon lange kein Rolle Model mehr für den globalen Süden.
Die „alten“ Spaltungen – links und rechts – gelten nicht mehr, es geht um Stadt gegen Land, gut ausgebildet gegen weniger gut ausgebildet, Einheimische und Zugereiste. Da werden die Gräben noch tiefer werden, befürchte ich. Doch die traditionellen Parteien haben noch keine gute Antwort auf diese Frage gefunden, und es ist ihnen noch nicht gelungen, neue soziale Verbindungen zu schaffen. So produzieren sie weiterhin Populisten, und das ist für die Demokratie ganz, ganz schädlich.
Gibt Ihnen etwas Hoffnung?
Ja, dass auch Populisten moderater werden können. Das hat man an Wilders gesehen, er hat viele seiner Positionen aufgeweicht und muss sich nachdrücklich an die Verfassung und die Rechtsstaatlichkeit halten. Offenbar gibt es innerhalb der Rechtspopulisten eine „Brandmauer“ zwischen den moderaten, regierungsorientierten und den wirklich „braunen“, zu denen auch die FPÖ gehört.
Ich fürchte aber, Populismus wird nicht mehr verschwinden. Rechtspopulisten sind vielleicht sogar die neuen Volksparteien, denn auch junge Menschen wählen sie. Wir müssen beginnen, sie dazu zu zwingen, moderater zu werden: Viele von Wilders‘ extremsten Forderungen wurden eingefroren, er selbst durfte nicht Premier werden. Im Moment funktioniert die Zusammenarbeit zwischen etablierter Politik und Rechtspopulismus in den Niederlanden noch nicht, aber daraus kann man Lehren ziehen. Andernfalls bleiben wir polarisierte, gespaltene Gesellschaften – und das untergräbt die Stärke der westlichen Demokratien in ihrem globalen Kampf gegen die Autokratie.
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