Großbritannien: Eine Labour-Hochburg fiel Boris Johnson in die Hände
Boris Johnson in seiner typischen Siegerpose, mit beiden Daumen nach oben, vor einem Pub auf neun Meter aufgeblasen.
In der englischen Hafenstadt Hartlepool, einer zutiefst roten Hochburg, siegten die Konservativen. Denn seit 1964 hatte der 92.000-Einwohnerort an der Nordsee immer die Labour Partei gewählt. Aber in einer Nachwahl am Donnerstag haben ihr die konservativen Tories des britischen Premiers hier das Unterhaus-Mandat abgeknöpft. Den Aufblas-Boris besuchte der echte Boris.
Die Worte „historisch“ und „symbolisch“ fielen am Freitag immer wieder.
Denn der Hartlepool-Sitz erweitert die Tory-Mehrheit im Parlament in London nur minimal, aber er galt als Teil von Labours „Roter Mauer“, also der Hochburgen Nordenglands in früheren Industrie- und Bergbau-Regionen, in die Johnson bei der Nationalratswahl 2019 mit einer Reihe von Siegen erste Löcher riss – auch weil viele dort für den Brexit waren.
Zusammen mit Kommunalwahlen in England und Regionalwahlen in Schottland und Wales war der Urnengang auch das erste Stimmungsbarometer seit EU-Austritt, Corona-Pandemie und Filz-Vorwürfen gegen die Tories. Und er war der erste Test für Labour-Chef Keir Starmer, der vor gut einem Jahr die Oppositionspartei nach dem schlechtesten Ergebnis seit 1935 von Jeremy Corbyn übernommen hatte.
Er rückte Labour in die politische Mitte und gibt sich gern patriotisch. Aber anders als der populistische und vom schnellen Impfprogramm beflügelte Johnson ist der Ex-Anwalt meist besonnen – oder zu intellektuell und kühl, so seine Kritiker.
Blabla und Geschwafel
„Auch viele Programm-Details hat er bisher nicht erklärt“, sagt Professor Steven Fielding, Labour-Experte an der Universität Nottingham, zum KURIER. Tatsächlich ist von Engländern oft zu hören, dass Labour Durchschnittsbürger nicht versteht und vor allem „waffle“ zum Besten gibt, also Blabla oder Geschwafel.
Wie wichtig Hartlepool ist, wo der amtierende Labour-Abgeordnete nach Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs zurückgetreten war, zeigt sich daran, dass Starmer und Johnson es im Wahlkampf gleich mehrmals besuchten. Labours Kandidat war ein Ex-Arzt. Dass er Pro-EU eingestellt ist, schien in einer Stadt, wo fast 70 Prozent für den Brexit waren und die Brexit-Partei 2019 mit 26 Prozent ihr bestes Ergebnis erzielte, ein Problem.
Seine Tory-Gegnerin Jill Mortimer, die eigentlich 40 Minuten entfernt wohnt, versprach trotz 11 Jahren Tory-Dominanz auf nationaler Ebene „Veränderung“ und siegte klar. Starmer bat schon im Vorfeld um mehr Geduld und nahm die Niederlage hier und in anderen Gemeinden auf seine Kappe. Einer seiner Schattenminister nannte das Ergebnis „erschütternd“, argumentierte aber, „Labour ändert sich noch nicht schnell genug“ und sein Chef habe das Zeug dazu, als „Premier-Alternative“ gesehen zu werden.
Wertloses Fahnenschwingen
Kritik regnete es vom linken Corbyn-Flügel der Partei. Die Abgeordnete Diane Abbott rief Starmer auf, „seine Strategie zu überdenken“. Ihr Kollege Lloyd Russell-Moyle kritisierte „wertloses Fahnenschwingen und Tragen von Anzügen“. Der Wahlforscher John Curtice konstatierte Labour in einem BBC-Interview „mangelnden Fortschritt“ beim Zurückerobern ihrer ehemaligen Arbeiter-Basis, aber nannte Großstädte wie London und Manchester als Modell für Koalitionen aus Jungen und Sozialliberalen. Labour wird in beiden Städten wahrscheinlich weiterhin die Bürgermeister stellen, wenn die Stimmen ausgezählt sind. Tony Blairs Stratege Peter Mandelson, der 12 Jahre lang Hartlepool für Labour im Parlament repräsentierte, meinte aber, die Partei müsse sich besser „mit Brexit-Einstellungen arrangieren“.
Schottland und Wales zählen erst aus
In Schottland begann am Freitagmorgen die Auszählung der Stimmen für 129 Sitze im Regionalparlament, der Startschuss zum langen und bangen Warten auf das Ergebnis am Wochenende. Die Wahl gilt als wichtig für die Zukunft Großbritanniens und ein mögliches zweites Unabhängigkeitsreferendum. Um 15.30 Lokalzeit am Freitag waren neun Sitze vergeben: Acht gewann wie bei der letzten Wahl die SNP von Regierungschefin Nicola Sturgeon, die für eine Abspaltung eintritt – darunter war auch der Sitz ihres Stellvertreters als First Minister, John Swinney. Einen Sitz hielten die Liberaldemokraten. Laut BBC stieg die Wahlbeteiligung an vielen Orten im Vergleich zu 2016. Auch in Wales war das Ergebnis am Freitag noch völlig offen: Ein Konservativer verteidigte seinen Sitz.
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