Neue deutsche Welle: Die Germanisierung der österreichischen Universitäten
Dienstagnachmittag, in einem Hörsaal der Universität Wien, erklingt die Stimme von Helmut Qualtinger. Er liest aus Karl Kraus’ "Die letzten Tage der Menschheit". Nicht alle werden jedes Wort aus dem Weltuntergangspanoptikum verstehen. Der Professor rät, einschlägige Beschwerden voraussehend, Zuhause nachzulesen. An österreichischen Universitäten studieren immer mehr Deutsche, derzeit sind es 8.000. Und es lehren und forschen immer mehr Deutsche.
An den Geisteswissenschaften in Graz sind 60 Prozent der Professoren Deutsche, in Klagenfurt bei den Kulturwissenschaften 63 Prozent, an der Wiener philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät 60 Prozent, in Salzburg, Innsbruck, Linz jeweils 40 bis 50 Prozent. "Und es gibt Institute ohne jegliche österreichische Beteiligung", rechnet der Germanist Klaus Zeyringer vor.
Die aus Deutschland berufenen Professoren sind gut vernetzt und nehmen gerne Assistenten mit, was zu Reibereien mit dem einheimischen Mittelbau führt. Mit den derzeit stattfindenden neuen Postenbesetzungen droht sich die Situation zuzuspitzen. Immer weniger Österreicher kommen zum Zug, wenn es um wichtige Jobs geht.
Wie etwa die Historikerin Ursula Prutsch, die sich für die Professur Globale Zeitgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz beworben hat. Sie studierte in Graz, habilitierte an der Universität Wien, lehrte an der Universität in München Geschichte der USA und Lateinamerikas. Ideale Voraussetzung für die Professur in Graz? Mitnichten.
"Ich war beim Hearing eine von fünf Eingeladenen und die einzige Österreicherin. Ich präsentierte gänzlich neue Forschungsresultate und künftige mögliche Forschungsschwerpunkte, die Kommission war überaus freundlich. Aber ich kam nicht einmal in den Dreiervorschlag, was mich angesichts der thematischen und geografischen Vielfalt, die ich zu bieten habe, der hohen Anzahl der betreuten Abschlussarbeiten, der umfangreichen Lehre und institutionellen Erfahrung sehr bestürzte, vor allem, weil der Rektor betont hatte, Österreicher zurückholen zu wollen."
Vor zwei Jahren schlug, ebenfalls in Graz, die Besetzung der Professur für Zeitgeschichte Wellen. Von mehreren Dutzend Historikern, die sich beworben hatten, kamen sieben in die Endrunde: ausschließlich Deutsche und Schweizer, die bis zum damaligen Zeitpunkt nicht zur österreichischen Zeitgeschichte publiziert hatten. Die Entscheidung stieß auf heftige Kritik von Fachleuten, einer der Gutachter, Pieter Judson vom Europäischen Hochschulinstitut Florenz, war über das Auswahlverfahren derart empört, dass er seinen Auftrag zurücklegte.
Historikerin Heidemarie Uhl von der Akademie der Wissenschaften hatte sich ebenfalls um den Posten beworben. Heute noch findet sie es problematisch, dass die Uni Graz in ihrer Ausschreibung nicht nach einschlägigen Fachkenntnissen verlangt hat: "Können Professoren, die keinerlei Bezug zu Themen der österreichischen Zeitgeschichte haben, zukünftige Lehrer in diesem zentralen Fach unterrichten, Dissertationen dazu betreuen und Forschungsprojekte begutachten?", fragt sie im Interview.
Erhöhte Präsenz Deutscher
Die Hochschulen sollen internationaler werden: Das war spätestens mit dem Universitätsgesetz 2002 ein Ziel der Politik. Jedoch: "Internationalisierung heißt tatsächlich in sehr vielen Fällen ,Germanisierung’." Das stellt unter anderem eine von der österreichischen Universitätenkonferenz erstellte Studie, 2017 verfasst vom heutigen Wissenschaftsminister Heinz Fassmann, fest: Deutschland sei fast zehnmal so einwohnerstark wie Österreich, eine "erhöhte Präsenz der Deutschen auf dem gemeinsamen universitären Arbeitsmarkt ist naheliegend."
Die Verhinderer
Andererseits: Auch Österreicher gönnen einander mitunter keinen individuellen Erfolg. "Außer in einer Seilschaft, wo auch für einen selbst etwas abfallen könnte", so eine Forscherin. Mancher Karrieresprung wurde auch von österreichischen Kollegen verhindert.Abgesehen von den Karrieremöglichkeiten befürchten viele durch die „Germanisierung“ auch inhaltliche Konsequenzen.
So würden österreichische Geschichte und Literatur zu "Regionalfächern". Auch im deutschen Universitätskatalog wird österreichische Geschichte als "Regionalgeschichte" geführt, wie die Innsbrucker Historikerin Brigitte Mazohl erläutert. Österreichische Geschichte werde "verprovinzialisiert". Schwerpunkte wie Austrofaschismus Neutralität oder österreichische Wirtschaftsgeschichte rücken in den Hintergrund.
Dass die deutschen Kollegen an den Spezifika des Landes wenig Interesse zeigen, konstatiert auch der Germanist Klaus Zeyringer: "Blicke in die Webseiten der geistes- und kulturwissenschaftlichen Fakultäten bestätigen das. So etabliert sich eine Deutungsmacht, die Zentrum (Deutschland) und Peripherie (Österreich) festlegt und mit jeder weiteren Professorenbestellung legitimiert. Als eine Studentin um Betreuung bei ihrer Doktorarbeit über Heimito von Doderer bat, hörte sie vom deutschen Lehrstuhl an einem österreichischen Institut die Ablehnung: ,Ich mache keine Regionalliteratur.’"
Ein Wurmfortsatz
Österreich, nichts als ein regionaler Wurmfortsatz Deutschlands? Nicht alle sehen das so drastisch. "Man soll von der Nationalität der Professoren nicht unbedingt auf deren Interessensgebiete schließen. Wenn man mehr österreichische Geschichte verankern möchte, muss man die Stellen entsprechend ausschreiben. Unterbesetzt ist dieses Gebiet nicht, ich lehre und forsche darin ebenfalls mit Freude und auf der Basis diverser Sprachen. Außerdem belegen viele österreichische Kollegen Themengebiete wie europäische und globale Geschichte – das ist doch nicht schlecht", kontert der deutsche Historiker Philipp Ther, Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien und Wittgenstein-Preisträger 2019.
Die Germanistin Daniela Strigl sieht das kritischer: "Es gibt Fächer, in denen eine spezifisch österreichische akademische Sozialisation keine Rolle spielt, wie Mathematik oder Medizin, und andere, in denen diese Kompetenz verloren zu gehen droht, weil Professuren nicht mehr mit dem entsprechenden Profil ausgeschrieben werden, zum Beispiel in Geschichte oder Germanistik. Deutsche Studenten wollen aber zum Beispiel in Wien etwas von österreichischer Literatur und Geschichte erfahren, das sie so in Hamburg oder Freiburg nicht erfahren können. Die österreichischen Universitäten geben in diesen Fächern leichtfertig quasi ein Alleinstellungsmerkmal auf."
Wynfrid Kriegleder, Professor für neuere deutsche Literatur an der Uni Wien, stimmt ihr zu: "In der Germanistik haben wir ein Problem. Denn hier sollte auch die österreichische Literatur zentral gelehrt werden. Das ist unser Selbstverständnis. Für die deutschen Kollegen, so sehr ich sie auch liebe, ist Österreich ein merkwürdiges Anhängsel an ihr Deutschland-Narrativ."
Die Sorge um den Schwerpunkt österreichische Literatur, in den 1970ern von Germanisten wie Herbert Zeman oder Wendelin Schmidt-Dengler aufgebaut, teilt Kriegleder. "Ich gehe in drei Jahren in Pension und ich frage mich: Wer macht das dann noch? Die Alten sind weg und die Neuen sind aus Deutschland. Die haben andere Interessen. Wir fragen uns manchmal: Liebe Uni, stellt ihr genug Leute an, die das vertreten?" Nachdenklich stimmt ihn auch die generelle Bestellungspolitik.
Die angepeilte Internationalität bedeutete: Es muss jemand von außen kommen. Für junge Österreicher habe es kaum langfristige Anstellungen gegeben. "Man sagte dem Nachwuchs: Ihr könnt euch ja bewerben, wenn einmal eine Professur ausgeschrieben ist. Aber es werden nicht so viel Professuren ausgeschrieben und wenn, gibt es eine Riesen-Konkurrenz aus Deutschland, das ist ja zehnmal so groß."
Abneigung gegen Deutsche
Diskriminiert würden sich übrigens auch manche Deutsche fühlen: „Vielleicht kommt da auch ein Thema durch, das nicht nur mit den Universitäten zu tun hat. Nämlich die österreichische Abneigung gegen Deutsche.“
Bildungsforscher Stefan Hopmann kann das bestätigen. Seit 15 Jahren lehrt er in Österreich, negative Reaktionen hat er etliche bekommen. "Ich wurde von österreichischen Kollegen beschimpft, dass ich in nationalen Kommissionen nichts verloren hätte", erzählt er. Auch mit seinem deutschen Akzent eckt er an: "Wenn ich Vorträge halte, bekomme ich regelmäßig Mails, in denen ich beschimpft werde."
Am Institut für Bildungswissenschaften werden derzeit fünf neue Professuren besetzt. "Naturgemäß gibt es viele deutsche Bewerbungen. Das hat damit zu tun, dass es mehr habilitierte deutsche als österreichische Bewerber gibt." Österreichs Möglichkeiten, den Nachwuchs so zu fördern, dass er konkurrenzfähig ist, seien vergleichsweise bescheiden: "Letztlich ist das ein Problem unzureichender Universitäten-Finanzierung."
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