Wie Alice Weidel und Heidi Reichinnek zu Deutschlands einflussreichsten Politikerinnen wurden

Das Bild sagt mehr als tausend Worte. CDU-Chef Friedrich Merz und sein Team wenige Tage nach der Wahl im Konrad-Adenauer-Haus, sechs Herren, sechs dunkle Anzüge. Das Foto, das in den vergangenen Tagen für viel mediale Häme gesorgt hat, zeigt deutlich: Die politische Mitte in Deutschland ist wieder sehr männlich.
Die Opposition ist dazu der krasse Gegenentwurf, auf vielen Ebenen. Die Siegerinnen dieser Wahl sind beide weiblich, und verorten sich beide am Rand des politischen Spektrums: Die AfD hat unter Alice Weidel rund 21 Prozent abgeräumt, die Linkspartei mit Frontfrau Heidi Reichinnek fast neun. Gemeinsam haben beiden nun eine nicht zu unterschätzende Macht über die Mitte: AfD und Linke stellen gemeinsam ein Drittel der Abgeordneten – sie können damit alle Vorhaben stoppen, für die die Regierung eine Zwei-Drittel-Mehrheit braucht.
Schlagend wird das, wenn die Schuldenbremse reformiert werden soll oder wenn die Regierung Sondervermögen aufnehmen will – geplant ist das etwa für die Bundeswehr. Dass Linke und AfD sich dazu koordinieren werden, scheint derzeit ausgeschlossen, dafür ist die gegenseitige Abneigung zu groß. Möglich ist aber, dass beide Parteien solche Entschlüsse einfach parallel nicht mittragen – ohne am jeweils anderen anzustreifen.
Alice Weidel, das Chamäleon
Die AfD-Chefin hat viele Gesichter. Das ist Teil ihres Erfolgs.
Die Musik wummert, sie lacht, wirft die Hände in die Höhe. #Cardancing mit Alice steht neben dem Video, zu sehen sind zwei Frauen im Auto, die ausgelassen zu Kylie-Minogue-Bässen tanzen. Es ist Sommer, das Leben leicht, knapp 25.000 Menschen haben es geliked. Gepostet hat es Sarah Bossard. Alice Weidels Frau.

Jubel am Wahlabend: Alice Weidel hat der AfD 21 Prozent verschafft, viele trauen ihr das Kanzleramt zu.
Es gibt nicht nur die eine Alice Weidel. Es gibt viele Versionen von jener Frau, die die AfD am Sonntag zur zweitstärksten Partei Deutschlands machte. Da ist Alice, die Parteichefin, die "Kanzlerin der Herzen", wie Wahlplakate suggerieren, die am Wahltag im TV-Studio steht, freundlich lächelt, und, man glaubt es kaum, den anderen gratuliert. Da ist Alice, die gelangweilt im Bundestag sitzt, ihre Verachtung soll jeder spüren. "Ich zähle mich nicht zur politischen Klasse", sagte sie mal, "ich bin die typische Wutbürgerin." Die ist sie auch auf der Bühne, da wird sie mitunter laut, vor allem wenn es um die "Illegalen" und die "Messermörder" geht; meist steht sie dann vor einem Meer aus Deutschlandfahnen, aus dem es "abschieben, abschieben, abschieben" hallt.
Und dann gibt es die Alice aus dem Auto. Mit Sonnenbrille, das Haar nicht ganz so streng wie sonst, tanzend, voll Freude. Und mit ihrer Frau an ihrer Seite, deren Wurzeln in Sri Lanka liegen, mit der sie zwei Söhne hat, in der Schweiz. Welche Version ist echt?
Darüber rätselt Deutschland schon lange, seit ihrem Wahlsieg noch mehr. Alice Weidel, 1979 geboren im erzkatholischen Harsewinkel in NRW, der Vater ist Möbelhändler, die Mutter Hausfrau. Sie studiert Ökonomie, Doktorat magna cum laude, arbeitet bei Branchengiganten wie Goldman Sachs und Credit Suisse, lebt in Japan, China, spricht fließend Mandarin. Sagt sie zumindest.
Lille, so nannte man sie damals, hat immer wieder Lücken im Lebenslauf, auf Nachfragen antwortet sie barsch. Genauso reagiert sie, wenn es um ihre Familie geht, oder ihren Wohnort in der Schweiz.
"Das war für einige Leute in der Partei schwierig", sagte ihr Mentor Alexander Gauland einmal dazu, eine Frau, mit einer anderen Frau verheiratet, dann auch noch mit einer dunkelhäutigen, das passt nicht zur deutschen DNA der Partei. Wie sie diesen Spagat überwindet, darüber spricht Weidel nicht, ihre Frau schweigt sowieso. Sarah Bossard ist Filmemacherin, auf Instagram sieht man sie in angesagten Berliner Clubs auflegen. In einer anderen Welt wären die beiden eine Regenbogenfamilie, in der AfD existieren sie nicht. Die will die Homo-Ehe weiterhin verbieten.
In der Partei gibt es manche, die das stört, sie nennen Weidel "Eisprinzessin", weil alles an ihr abperlt. Laut sind sie aber nicht, müssen sie auch nicht, angesichts der 21 Prozent und des Rückenwindes von überall her, sogar von Elon Musk. Weidel hat es in nur zwei Jahren an die Parteispitze geschafft, ihr wird auch das Kanzleramt zugetraut.
Als am Sonntag das Wahlergebnis bekannt gegeben wird, steht sie in Berlin neben Björn Höcke, die beiden klatschen im Rhythmus. 2017 wollte Weidel ihn aus der Partei werfen, wegen ständiger Nazi-Anstreifer. Mittlerweile sind sie vertraut, alles vergessen und vergeben, Höcke hat in Thüringen knapp 40 Prozent gemacht. Ihr selbst rufen die Fans "Alice für Deutschland" zu, das klingt wie "Alles für Deutschland", eine der SS-Parolen, wegen der Höcke schon vor Gericht stand.
Ob Weidel das aus Opportunismus macht oder aus Überzeugung, weiß niemand. Fragen kann man sie an diesem Sonntag nicht, nach dem kurzen Abstecher zur Wahlparty ist sie auch schon wieder weg. Und lächelt in die TV-Kameras.
Heidi Reichinnek, die Anti-Wagenknecht
Sie entstaubte die Linke vom PDS-Image – aber nur oberflächlich.
Über 30 Millionen Mal wurde ihre energische Wut-Rede gegen Unionschef Friedrich Merz nach der umstrittenen Abstimmung im Bundestag mit der AfD im Netz geklickt. "Aller politischen Differenzen zum Trotz hätte ich mir niemals vorstellen können, dass eine christlich-demokratische Partei mit Rechtsextremen paktiert“, schleudert Heidi Reichinnek Merz mit ausgestrecktem Zeigefinger entgegen. Echten Antifaschismus gebe es nur mit der Linken, so die Botschaft. "Auf die Barrikaden!", ruft sie. Dafür holte sie sich eine Mahnung der Bundestagspräsidentin ein.

Heidi Reichinnek (Mitte) hat die abgeschriebene Linke zu neun Prozent geführt.
Diese Rede wird als Zündung der Aufholjagd der Linken im Wahlkampf gesehen, die Reichinnek zur Stimmenfängerin der linken Jungwähler und vor allem Jungwählerinnen machte.
35 Prozent der unter 35-jährigen Frauen in Städten wählten die Linke. Kurz vor der Wahl meldete die Partei einen Mitgliederrekord von über 81.000 – knapp zwei Drittel seien Frauen unter 30, so die Partei. Die 36-jährige Spitzenkandidatin scheint vor allem für diese junge, urbane Generation von Frauen Projektionsfläche zu sein: nicht länger zurückhaltend, laut, kämpferisch. Am Handgelenk trägt sie von Fans gebastelte Freundschaftsbändchen à la Taylor Swift; auf dem – linken – Unterarm hat sie Rosa Luxemburg tätowiert, die marxistische Leitfigur der Linken.
Geboren in Sachsen-Anhalt, trat Reichinnek mit 27 Jahren der Linkspartei bei. Sie studierte Politikwissenschaften und Nahoststudien, engagierte sich während der Flüchtlingskrise. 2021 zog sie in den Bundestag ein, als jüngste linke Abgeordnete.
Schützenhilfe soll sie von Partei-Urgestein Dietmar Bartsch bekommen haben. Er war Teil der "Mission Silberlocke", einem Dreiergespann aus "alten, weißen Männern", das der Partei bei den nostalgischen PDS-Wählern in Ostdeutschland die notwendigen Direktmandate besorgen sollte, um die Fünf-Prozent-Hürde für den Bundestag zu umgehen. Das war vor Reichinneks Erfolg in den sozialen Medien. "Wenn es drei ältere Herren braucht, um es mit einer Frau aufzunehmen, dann ist das doch schon mal ein gutes Zeichen", kontert Reichinnek später. Sie gilt als pragmatische Realistin, die versucht, die parteiinternen Grabenkämpfe auszusöhnen.
Man könnte auch sagen, sie ist die personifizierte Erneuerung, die die Linke nach dem Parteiaustritt Sahra Wagenknechts überraschenderweise doch geschafft hat. Emotional, spontan – das Foto des Wahlabends zeigt sie mit weit offenem Mund, vor Freude schreiend –, teilweise unfrisiert, in Jeans und weiten Kleidern im Bundestag, während bei Wagenknecht Kostüm und Frisur stets perfekt saßen, ihre Reden voraussagbar und einstudiert wirkten.
Nur inhaltlich ist die Linke ihren alten Zielen treu geblieben: Umverteilung, höhere Steuern für Konzerne, Preisdeckelung – und eine "diplomatische Lösung" mit Russland, keine Waffenlieferungen an die Ukraine, keine Auf-, ja sogar eine Abrüstung der Bundeswehr. Bewusst wurden diese Themen im Wahlkampf weniger bespielt als Soziales, weil es auch jungen Linkswählern schwergefallen ist, diese Meinung zu teilen. Dabei wird die Ukraine das Thema sein, bei dem die Linke ihre neugewonnene Macht im Bundestag am stärksten nutzen wird: Zu einem neuen Sondervermögen zur Aufrüstung der Bundeswehr "sagt die Linke klar nein", stellt Reichinnek nach der Wahl klar, zeigt sich hier sogar härter als die AfD.
Als die Fraktion nach der Wahl im Bundestag für ein Foto posiert, rufen die Abgeordneten: "Alerta, alerta, antifascista!", Reichinnek steht in der ersten Reihe. Es ist der antifaschistische Schlachtruf, den auch die linksradikale Antifa nutzt.
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