Wo Volkswagen das Leben ist – und die deutsche Industrie hustet

Wo Volkswagen das Leben ist – und die deutsche Industrie hustet
Volkswagen, deutsche Erfolgsgeschichte und aktuelles Sorgenkind, steht symptomatisch für das, was in der Bundesrepublik gerade schief läuft. Ein Besuch in Wolfsburg.

Gegen 14 Uhr kommt plötzlich Leben auf Wolfsburgs Straßen auf: Dann ist die Frühschicht bei VW zu Ende, die ersten Arbeiter gehen nach Hause. Vor dem Tor Ost des Werks staut es sich bereits. Nur vereinzelt wagt es einer, ein anderes Auto als eines aus der VW-Gruppe zu fahren. 

Nur E-Auto sieht man so gut wie keines in der Autoschlange. "Würde ich mir nie kaufen", sagt ein Mitarbeiter, "das war eine komplette Schlappe."

Hoch ragen die vier charakteristischen Schornsteine der hauseigenen Kraftwerke, die Werk und Stadt mit Strom und Wärme versorgen, über Wolfsburg auf. Daneben, unübersehbar, die riesigen silbernen Buchstaben V und W – identitätsstiftend nicht nur für die Stadt, sondern ganz Deutschland. Volkswagen stand über Jahrzehnte für Arbeit, Wohlstand, Sicherheit, deutsche Qualität und Ingenieurskunst. Krisen überstand man solidarisch, mit Einbußen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber.

Doch dann kamen der verheerende Dieselskandal, die Corona-Pandemie, die zur vorübergehenden Schließung von Werken zwang, Explosion bei den Energiepreisen und Absatzeinbrüche am chinesischen Markt. Werkschließungen konnten bei der letzten Tarifverhandlung zwar abgewendet, betriebsbedingte Entlassungen bis 2030 abgewehrt werden. Doch im Gegenzug müssen die Mitarbeiter auf Lohnerhöhungen, Urlaubs- und Weihnachtsgeld verzichten. Mit großzügigen Abfertigungen werden in einigen Bereichen Kündigungen schmackhaft gemacht. Dem Vorstand wird nicht erst seit gestern Ignoranz gegenüber langfristigen Entwicklungen vorgeworfen. 

Die Stimmung beim deutschen Vorzeigeunternehmen? Die ist so grau wie dieser Wintertag.

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Warnstreik der IG Metall in Wolfsburg im Dezember 2024.

Ein Leben lang VW

Wenn einer den Frust versteht, dann ist es Ernst-Dieter Lilje. Der 77-Jährige, großgewachsene weißhaarige Mann trägt einen knallblauen Pulli mit VW-Logo drauf. 46 Jahre war er für VW tätig, als Kfz-Mechaniker, technischer Entwickler, in der Produktion und im Tarifwesen: "Ich kam als Flüchtling aus der DDR und hatte das Glück, dass VW auch die genommen hat, die kein Schulgeld zahlen konnten." Heute treten Liljes Schwiegersöhne und Tochter bei VW in seine Fußstapfen.

Ernst-Dieter Lilje kann sich noch erinnern, an die goldenen Zeiten. 1964 begann er bei VW zu arbeiten, "in einer 42-Stunden-Woche, einem Drei-Schicht-Betrieb. Damals konnten wir gar nicht so viele Autos produzieren, wie wir verkaufen konnten".

 Heute verlassen täglich zwischen 2.300 und 2.500 Autos das Werk, allerdings nur so viele, wie bestellt. Auf Vorrat wird nicht mehr produziert. Bei kompletter Auslastung wären es 4.000 Autos am Tag.

Wo Volkswagen das Leben ist – und die deutsche Industrie hustet

Der 77-jährige Ernst-Dieter Lilje hat 46 Jahre lang bei Volkswagen gearbeitet.

Das Wohnhaus, in dem der Pensionist lebt, gehört VW, wie alle Häuser hier im Stadtteil. Wolfsburg wurde einst extra für den Automobilhersteller von den Nationalsozialisten gegründet, hatte erst das Werk, dann Rathaus und Bahnhof. 62.000 Beschäftigte zählt die Fabrik, 130.000 Menschen leben in Wolfsburg. Von seinem Balkon aus sieht Lilje die rauchenden Schornsteine.

Das deutsche Problem mit dem E-Auto

Was das Reizthema E-Mobilität angeht, sieht auch Ernst-Dieter Lilje darin eine Zäsur für die Automobilindustrie: Politik und Wirtschaft haben verschlafen, das politische Hin und Her zum Verbrenner-Ausstieg schaffte Unsicherheit. Dazu kommt der hohe Preis: "Wir haben bei VW gut verdient, aber ich würde mir nie ein Auto um 60.000 Euro kaufen", sagt Lilje. Im Vorjahr lag der Anteil neu zugelassener E-Autos in Deutschland (13,51 Prozent) unter dem EU-Schnitt, und sogar hinter Österreich (17,58 Prozent). Die Ampel-Regierung hat Ende 2023 als Reaktion auf die Budgetengpässe Förderungen gestoppt.

Wenn er nicht erzählt oder durchs Automuseum führt, repariert er alte Autos – "das können die Angestellten von heute gar nicht mehr", sagt er leicht zynisch.

Einige Schritte in der Automobilindustrie sind mittlerweile über 90 Prozent automatisiert. Bei der Werksführung sieht man, wie Autotüren von orangenen Greifarmen durch die Luft gewirbelt werden. Die Automatisierung macht vor allem niedrigqualifiziertes Personal langfristig überflüssig. Vergleichsweise hohe Lohnkosten in Deutschland, bei VW aufgrund der guten Gehälter nochmal höher als sonst wo, machen es attraktiver, anderorts zu fabrizieren. Vollzeitarbeitende verdienen in Wolfsburg im Durchschnitt brutto fast 1.000 Euro mehr als der Durchschnittsdeutsche.

Längst hat VW Werke auf der ganzen Welt. Und weil der Seetransport billiger ist als der Transport auf dem Landweg, landen auch in Mexiko produzierte Autos auf dem deutschen Markt. "Beim Käfer hatten wir noch einen Hausanfertigungsanteil von 70 Prozent, heute liegt er unter 40 Prozent", sagt Lilje.

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In der Corona-Pandemie musste Volkswagen vorübergehend einen Großteil seiner Werke in Europa schließen.

Die gesamte Industrie hustet

Es steht, um die Automobilindustrie in Schutz zu nehmen, nicht nur um sie schlecht: So ist der gesamte Industrieoutput Deutschlands seit 2018 gesunken, also schon lange vor Corona und der Energiekrise. Der Druck begann mit der ersten Amtsperiode Donald Trumps, der schon damals Zölle auf Aluminium und Stahl einführte. Ein harter Schlag für die Exportnation Deutschland. Die aktuellen Zolldrohungen Trumps stimmen nicht zuversichtlich.

Ernst-Dieter Lilje seufzt. "Hustet VW, hat die ganze Region eine Grippe." Wolfsburg besonders: Die Stadt erhielt in den vergangenen Jahrzehnten dank den Automobilhersteller nicht nur Steuer-Millionen, sondern auch enorme Direktinvestitionen: Schwimmbäder, Theater, Fußballstadion, alles von VW gesponsert. Die Autostadt von VW, eine Art Erlebnisgelände mit Museum, Rennsimulatoren, Geländeparcours und Luxus-Hotel, lockt laut eigenen Angaben jährlich Hunderttausende Touristen in die Stadt.

"Auch wir werden Einschnitte spüren", sagt Ernst-Dieter Lilje. Der Plural steht nicht nur für die lebenslange Solidarität mit VW-Beschäftigten, sondern für alle Wolfsburger. Trotzdem glaubt Lilje fest an das deutsche Ingenieurwissen. Und an das erste VW-Elektro-Auto unter 20.000 Euro, das 2027 auf den Markt kommen soll. Produziert wird es in Spanien – zumindest die Karosserie soll eine wolfsburgerische sein.

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