Man schummelt deutsch: Die Anatomie des VW-Skandals

Man schummelt deutsch: Die Anatomie des VW-Skandals
Der VW-Skandal lässt Deutschland plötzlich nicht mehr so korrekt, bieder und bürgerlich erscheinen wie stets gedacht. Zwar hat VW beileibe nicht für den ersten Skandal des Landes gesorgt, doch dieser Fehltritt ist besonders unverzeihlich:Er bringt das deutsche Ideal ins Wanken. Die Marke "Made in Germany" braucht eine Generalüberholung.

Es lief und lief und lief – bis jetzt. Jahrzehntelang mühten sich die Deutschen, mit dem Bild der Korrekten und Verlässlichen auch gute Geschäfte zu machen. Die gute deutsche Wertarbeit. Die verlässliche deutsche Ingenieurskunst. Der treue deutsche Volkswagen.

Mit einem Schlag ist das nun weg.

Das immer so verlässliche Verkaufsargument "Made in Germany" soll plötzlich wieder das sein, was es einst war: Ein Zeichen schlechter Qualität. Als die Engländer das Siegel Ende des 19. Jahrhunderts erfanden, brandmarkten sie damit deutsche Waren, die als "billig und schlecht" galten – die Deutschen hatten mit Billigimitaten den Briten das Geschäft vermiest. Nun muss die deutsche Wirtschaft dank der Wertarbeit von VW wieder mit diesem Vorwurf leben – denn die hoch gelobten Wolfsburger Ingenieure brachten es fertig, die Behörden jahrelang zu narren. Deutsche Schummelkunst auf höchstem Niveau sozusagen: Aus dem Werbespruch "Isn’t it time for German Engineering?" wurde eine kleine Drohung.

Im Zentrum dieses schmutzigen Geschäfts steht einer, dessen Biografie sich wie die Nacherzählung des deutschen Wirtschaftswunders liest. Martin Winterkorn, der Arbeitersohn aus Schwaben, der sich mit seiner berüchtigten Detailverliebtheit hocharbeitete und den Spitznamen "Mr. Qualität" davontrug. Der mit seinem späteren Kritiker Ferdinand Piëch den einst in Trümmern liegenden Konzern zu einem einzigen Superlativ formte. Kein anderes Produkt beschreibt das deutsche Selbstverständnis der Nachkriegszeit besser als der Volkswagen: Er ist ideologisch unbelastet und steht für deutsche Wertarbeit, für Aufbau und für Selbsterneuerung. Nicht von ungefähr kommt es, dass zwei Drittel der Deutschen laut Umfrage sagen, der Volkswagen sei "typisch deutsch"– noch vor Goethe, Merkel oder der heiligen Nationalelf.

Umso schlimmer ist es, dass die stolzeste Marke der Deutschen ins Trudeln gerät. Erst Mitte 2015 hatte der Konzern, dessen Jahresumsatz sich in ähnlichen Sphären bewegt wie der Bundeshaushalt, den Dauerkonkurrenten Toyota als größter Autobauer der Welt überholt– auch weil Winterkorn, wie er stets betonte, gern jede Schraube selbst prüfte. Nun hat der 68-Jährige, mit 16 Millionen Jahressalär der bestbezahlte Manager des Landes, binnen Kurzem so viel Aktionärsvermögen verspielt wie kaum jemand vor ihm. 35 Milliarden an Börsenwert hat VW seit Bekanntwerden der Manipulationen verloren – auch ein Superlativ.

"Schummeldeutsche"

Die Einbußen an Glaubwürdigkeit – einer Währung, mit der man in Deutschland besonders gerne zahlt – muss nun Matthias Müller als neuer Chef wiedergutmachen. Er hat enormes Chaos zu beseitigen; und auch den Ruf der Marke, den auch Winterkorn hinabzog, wiederherzustellen: Ein "diktatorisches Regime" unterstellte der Spiegel Winterkorn schon vor seinem Fall – er habe mit seinen Ansprüchen das Unternehmen zu groß aufgeblasen und Mitarbeiter heillos überfordert – so weit, dass sie auch in die Trickkiste griffen. Ob er selbst davon wusste, sei dahingestellt.

Das passt natürlich wie die Faust aufs Auge. Vor einigen Monaten wurde in deutschen Blättern noch demonstrativ mit dem Finger auf die "Schummelgriechen" gezeigt, jetzt hat man selbst den "Schummeldeutschen" zu Hause sitzen. Der Musterschüler auf Abwegen: "Dem eigenen Verständnis, eine rechtschaffene Nation zu sein, einen schweren Schlag versetzt", schreibt die New York Times.

Man schummelt deutsch: Die Anatomie des VW-Skandals
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Das stimmt. Denn VW ist nicht nur historisch, sondern auch wirtschaftlich das Rückgrat der deutschen Autoindustrie – und die ist Motor des deutschen Exportwunders: Etwa die Hälfte des sprudelnden Exportüberschusses kommt aus der Branche. Großen Anteil daran hat das Öko-Image, mit dem VW vor allem in den USA sein Image aufpolierte; schließlich gilt die Öko-Birkenschlapfen-Mentalität als ebenso typisch deutsch wie Bockwurst und Bier. Jetzt ist die Homepage der US-"Clean Diesel"-Kampagne nicht mehr zu erreichen – "Page not found" steht da.

Auch in Regierungskreisen kuschelt man gerne mit der Autobranche – vor allem, wenn die sich grün gibt. Angela Merkel, die in Kanzlerform gegossene deutsche Zuverlässigkeit, schmückt sich gern mit dem Etikett Klima-Kanzlerin – saubere deutsche Projekte wie Atomausstieg und Energiewende heftet man sich in Berlin gern auf die Fahnen. Dass nun schwarzer Dieselruß auch über der Hauptstadt schwebt, ärgert viele, denn auch die Politik trifft der Vorwurf der Schummelei: 20 Prozent des Konzerns gehören dem Land Niedersachsen, das somit nicht nur mitverdient, sondern auch eine größere moralische Verantwortung hat. Im Verkehrsministerium, schimpfen die Grünen, habe man seit geraumer Zeit von den Manipulationen gewusst, aber nichts unternommen.

Vergessene Skandale

Es wäre nicht das erste Mal. Denn ohnehin täuscht der Eindruck, dass die Deutschen vor moralischen Fehltritten besser gefeit seien als andere. Zu lang ist dafür die Liste an Skandalen, die die Deutschen erschüttert haben – und die, so muss man sagen, auch bald wieder in Vergessenheit gerieten. Kaum jemand kann sich erinnern, warum der Pharmariese Bayer Anfang der Nullerjahre knapp vor dem Ruin stand – der Cholesterinsenker Lipobay hatte damals etwa 50 Todesfälle zur Folge gehabt. Auch der Siemens-Skandal ein paar Jahre später ist in die vergessenen Annalen des Unternehmens eingegangen, obwohl es sich dabei um den größten Schmiergeldskandal der Nachkriegsgeschichte handelte. Besser in Erinnerung blieben der Öffentlichkeit jene Skandale, die weniger abstrakt waren: Die Fehltritte von Uli Hoeneß und Christian Wulff etwa, die beide so wunderbar aus der deutschen Rolle fielen. Saubermänner, die schmutzige Geschäfte treiben – und das auch noch gegen Staatsinteressen.

Die persönliche Betroffenheit ist es auch, die beim VW-Skandal entscheidend sein wird. "Die Probleme sind ja virtuell", sagt Doreen Pick, Wirtschaftswissenschaftlerin an der Freien Uni Berlin, im Gespräch mit dem KURIER. Gemeint ist damit: Das Abgasproblem findet derzeit noch in den Medien und in den weit entfernten USA statt – und ist, ebenso wie die Feinstaubproblematik, nicht greifbar für den Konsumenten. Die Schmerzgrenze sei noch nicht erreicht, meint sie: "Man verzeiht dem Unternehmen." Auch Toyota und GM, die beiden Konkurrenten von VW, hatten mit heftigen Produktionsskandalen zu kämpfen – klemmende Gaspedale und defekte Zündschlösser kosteten die Konzerne zwar Milliarden, brachten sie aber nicht zu Fall.

Ob VW und damit die Marke "Made in Germany" glimpflich davonkommen , hängt vornehmlich von der Aufarbeitung ab, sagt Pick.

Auch das Institut für deutsche Wirtschaft spricht von "systemischer Krisenqualität", die der Skandal habe: Sollten andere deutsche Marken auch manipuliert haben – das legen Hinweise von Experten ja nahe –, "dann hat das einen großen negativen Effekt auf die ganze Branche." Und damit auf ganz Deutschland, versteht sich "Die angedrohten 18 Milliarden Strafzahlung hätten wegen der Beteiligung Niedersachsens auf ganz Deutschland eine steuerliche Auswirkung."

Abschied von der Arroganz

Die Forscherin Pick glaubt aber auch an einen anderen Effekt. "Die Deutschen gehen in Verteidigungshaltung", sagt sie – gerade weil das Bild der korrekten Deutschen wanke,wolle man die Probleme schnell in den Griff bekommen. Jedoch ohne Hybris: Die war es nämlich, die VW ins Trudeln gebracht hat. "Größenwahn", wie der Spiegel über den Konzern urteilte, die das Weltauto für sich beanspruchte.

Erneuerung ist also das Schlagwort, wie schon nach dem Zweiten Weltkrieg. Und ein Abschied von Arroganz – auch so ein deutsches Phänomen. Damit es wieder läuft und läuft und läuft .

Auf den vom Abgasskandal geschüttelten Volkswagen-Konzern kommen Milliarden-Kosten zu. Neben drohenden hohen Strafen von bis zu 18 Milliarden Euro in den USA muss VW viel Geld in die Hand nehmen, um die manipulierten Fahrzeuge nachzurüsten. Wie das erfolgen soll, ist vorerst offen, am wahrscheinlichsten dürfte eine gigantische Rückrufaktion für die betroffenen Fahrzeuge sein.

Allein in Deutschland geht es laut Verkehrsminister Alexander Dobrindt um "mindestens" 2,8 Millionen Fahrzeuge, weltweit sind es laut Konzern fünf Millionen Autos der Marke VW. Vorerst können die VW-Kunden ihr Fahrzeug weiter fahren, sie werden in den kommenden Wochen angeschrieben. Wie viele österreichische VW-Fahrer betroffen sind, ist noch offen.

Die Affäre beschäftigt mittlerweile auch die heimische Innenpolitik. Grüne und Neos kritisieren die Regierung und fordern eine eigene Prüfung in Österreich, ob die von den Herstellern angegebenen Abgaswerte stimmen. Verkehrsminister Alois Stöger (SPÖ) habe es in der Hand, über das Kraftfahrgesetz gegen die Zulassung von Fahrzeugen vorzugehen, die nicht den Angaben in der Genehmigung entsprechen. VW Genehmigungen entziehen – wie es "vorsorglich" die Schweiz machte – kann Österreich laut Stöger nicht. Typengenehmigungen werden im Hersteller-Land erteilt und gelten dann in der gesamten EU. Österreich als Nicht-Hersteller-Land könne keine Genehmigungen entziehen.

Inzwischen wird auch der Ruf nach Abgastests im Fahrbetrieb immer lauter. Diese sind in der EU zwar für 2017 geplant, zahlreiche Experten und Politiker fordern ein Vorziehen dieser Echt-Tests. Unter anderem macht sich der österreichische Umweltminister Andrä Rupprechter (ÖVP) stark.

Unmittelbar nach der Bestellung von Ex-Porsche-Chef Matthias Müller zum neuen VW-Konzernchef rücken Porsche und VW näher zusammen. Die Porsche Holding kaufte dem japanischen Hersteller Suzuki dessen 1,5 Prozent VW-Stammaktien ab, Porsche hält nun 52,2 Prozent Stammaktien.

Vergangenen Sonntag wurde bekannt, dass der Volkswagen-Konzern in den USA Abgaswerte für Dieselfahrzeuge manipuliert hatte. Laut der US-Umweltschutzbehörde war in 482.000 Fahrzeugen eine Software eingebaut, die falsche Daten zu Emissionswerten lieferte. VW-Angaben zufolge soll die Software weltweit in 11 Millionen Autos eingebaut sein. Die VW-Aktie büßte an nur einem Tag 20 Prozent ihres Wertes ein. Zudem droht Volkswagen in den USA eine Strafe in Höhe von bis zu 18 Milliarden Euro. Eine weitere Folge des Skandals war der Rücktritt des Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn. Dieser erfolgte am Mittwoch. Auf den 68-Jährigen wartet nun eine Pension im Gesamtwert von 28,6 Millionen Euro. Experten sind sich sicher, dass noch weitere Personen, insbesondere einige Topmanager, den Konzern verlassen werden müssen. Zu Winterkorns Nachfolger wurde am Freitagabend Porsche-Chef Matthias Müller ernannt. Dieser soll nun das Vertrauen in die Marke VW wieder stärken. Großbritannien, Italien, Kanada und weitere Staaten begannen nun ebenfalls, die Abgaswerte von importierten VW-Fahrzeugen zu testen.

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