Wo Deutschland bröckelt – und welche Baustellen Merz erben wird

Wo Deutschland bröckelt – und welche Baustellen Merz erben wird
Nicht alle Baustellen der Bundesrepublik sind auf die schlechte Wirtschaftslage oder die Ampel-Regierung zurückzuführen. Viele Probleme wird auch eine Regierung unter CDU-Führung nicht lösen können.

"Robert Habeck hat den Karren in den Dreck gefahren." Wahlkampfjargon pur, dem sich der Unions-Bundestagsfraktionsvize Jens Spahn unlängst in der Zeit bediente. Gerüchten zufolge soll der ehemalige Gesundheitsminister, dem vorgeworfen wird, während der Pandemie Steuergelder für Milliarden von Masken verschwendet zu haben, Habeck als Wirtschaftsminister in der nächsten Regierung ablösen wollen.

Ob die, wahrscheinlich unter Führung des Unions-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz, bei der Problemlösung erfolgreicher sein wird, ist fraglich. Die meisten sind nicht allein der schlechten konjunkturellen Lage geschuldet, sondern strukturellen Ursprungs. Ein Blick auf die fünf größten Baustellen der Bundesrepublik.

  • (Auto-)Industrie: Die Chinesen fuhren den Deutschen davon

Deutschlands Autobauer waren das Zugpferd der größten Volkswirtschaft Europas, genossen lange breite staatliche Unterstützung (Steuererleichterungen für Dienstwägen). 780.000 Menschen arbeiten in der Branche – Zulieferer und Wirtschaftszweige, die daran hängen, nicht mitgezählt. Heute ist sie abgehängt von vor allem chinesischen Firmen, die schneller und innovativer auf Entwicklungen reagierten – Stichwort E-Autos.

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Volkswagen kämpft mit Werksschließungen und Arbeitsplatzverlusten.

Dass Absatzzahlen wegbrechen, schmerzt; im Schnitt sollen Deutschlands Autowerke 2023 nur zu etwas mehr als zwei Dritteln ausgelastet gewesen sein. VW droht, Werke zu schließen und bis zu 30.000 Arbeitsplätze abzubauen; mehr als 2.000 sind es bei Audi. Doch selbst wenn ein Umstieg auf die Produktion von E-Autos gelänge, wären auch viele Jobs gefährdet: Ein Elektroantrieb ist weniger komplex und braucht weniger Teile.

Nicht nur die Autobranche ist betroffen: Stahl-Riese ThyssenKrupp will fast 11.000 Stellen abbauen. Fatal für die export-orientierte Industrie neben der fehlenden Nachfrage: die unverhältnismäßig teure Energie.

  • Die Energiewende ist ins Wasser gefallen

Die globale Nachfrage nach Gas-Alternativen (Deutschland bezieht vorwiegend aus Norwegen, den Niederlanden und Belgien) trieb die Preise in die Höhe. Dass die Preise in Deutschland aber besonders hoch sind, verunsichert. Frankreich setzte auf staatliche Zuschüsse und Preisdeckel, der Strompreis für Industrie ist weitaus günstiger (15 Cent pro KWh inkl. Abgaben, in Deutschland 24 Cent). Laut Deutscher Handelskammer planen 45 Prozent der befragten Industrieunternehmen deswegen, ihre Produktion einzuschränken oder ins Ausland zu verlagern.

2045 soll die Wirtschaft klimaneutral sein. Im ersten Halbjahr 2024 wurden 61 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien gewonnen (in Österreich über 80 Prozent). Der Rest wird in Kraftwerken gewonnen, die zum Teil mit Erdgas betrieben werden. Die Ampel war sich vor allem bei Finanzierungsfragen uneinig und verspielte mit dem Wärmepumpen-Fiasko und Streit um den Atomkraft–Ausstieg ihre Glaubwürdigkeit.

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Die Bundesregierung plante, dass bis 2030 mindestens 80 Prozent des Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien stammen. Das Ziel wird voraussichtlich nicht erreicht. 

  • Fachkräftemangel: Bye, bye, Babyboomer!

46 Millionen Menschen arbeiten derzeit in Deutschland. Bis 2040 könnte die Zahl aufgrund der Pensionierung der Babyboomer auf 42 Mio. schrumpfen, bis 2060 sogar auf 35 Mio., so die Bertelsmann Stiftung. Das verschärft den bestehenden Fachkräftemangel. Versuche zur gezielten Anwerbung von Arbeitskräften im Ausland waren bisher nur bedingt erfolgreich: Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Ampel versprach schnellere Anerkennungsverfahren. Seit einem Jahr in Kraft, wurden im ersten Halbjahr 2024 nur knapp 3.000 Arbeitsvisa mehr erteilt als im Vergleichszeitraum im Vorjahr. Die Bertelsmann Stiftung spricht von einer fehlenden Willkommenskultur. Auch der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel kritisiert, dass die "Asyldebatten" den Dialog über Arbeitsmigration vergifteten.

  • Sehr geehrter Fahrgäste, dieser Zug ist leider verspätet.

Der Einsturz der Elbbrücke in Dresden, das Bahn-Chaos bei der Fußball-EM sind nur die jüngsten Beispiele: Zehntausende der 130.000 Brücken, Hunderte Kilometer Schienen sind sanierungsbedürftig. Doch die Bundesrepublik verzeichnet seit Mitte der 1990er-Jahre im Schnitt eine Null-Investitionsquote in Relation zur Wirtschaftsleistung. Nur die Slowakei und Lettland investierten 2024 weniger (Österreich findet sich mit einer durchschnittlichen Nettoinvestitionsquote von 0,5% der Wirtschaftsleistung beim EU-Durchschnitt). "Es gibt ein strukturelles Investitionsproblem der öffentlichen Hand“, sagt Ökonom Philipp Heimberger vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). "Das merkt man in der Infrastruktur, bei den Straßen und Schienen. Das gibt es in anderen Volkswirtschaften auf diesem Entwicklungsniveau nicht, und das hat auch mit der Schuldenbremse zu tun.“

Die Ampel plante für die Deutsche Bahn, die zu 100 Prozent Eigentum des Bundes ist, eine milliardenschwere Eigenkapitalerhöhung und ein Darlehen – doch das Ende der Koalition kam dazwischen. Auch beim Internet hinkt Deutschland hinterher: Im OECD-Durchschnitt sind 42 Prozent aller Breitbandanschlüsse Glasfaser, in Deutschland sind es gerade mal elf Prozent (genauso in Österreich).

Seit jeher bemängelt werden auch die hohen Unternehmenssteuern sowie die Bürokratie: Eine Firmengründung dauert acht Tage – in Frankreich und den USA sind es vier. Ob das Bürokratieentlastungsgesetz der Ampel Abhilfe schafft – Steuerbescheide werden künftig digital abgewickelt, Rechnungen müssen nur mehr acht statt zehn Jahre aufbewahrte werden – , bezweifelt die Wirtschaft.

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Kanzler-Anwärter Friedrich Merz (links) und Noch-Kanzler Olaf Scholz (rechts) im Bundestag.

  • Ausgebremst durch die Schuldenbremse

Deutschland werde "mit den Investitionen, die wir uns im Rahmen der Schuldenbremse leisten können, für eine bestimmte Zeit nicht auskommen." Mit dem Zitat überraschte unlängst Alt-Kanzlern Angela Merkel – unter der die Schuldenbremse einst eingeführt wurde. Mittlerweile halten auch konservative Ökonomen wenn schon nicht Reformen zumindest kleine Änderungen für notwendig.

"Nicht alle Spielräume für Neuverschuldung sind im Grundgesetz geregelt – oder bräuchten zur Ausweitung eine Änderung des Grundgesetzes", sagt der Ökonom Heimberger. Die Schuldenbremse sieht derzeit eine staatliche Neuverschuldung von maximal 0,35 Prozent des BIP vor; geht es der Wirtschaft schlecht, erhöht sich der Spielraum über die sogenannte Konjunkturkomponente, der Staat darf sich zusätzlich Geld ausleihen. "Wie die berechnet wird, ist jedoch sehr umstritten", so Heimberger.

Selbst der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, schließt eine Reform nicht mehr aus. Wohl weil er weiß, dass auch er angesichts der Herausforderungen darunter leiden würde – wie es die Ampel tat, und schlussendlich daran zerbrach.

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