Deutschland: Hunderte rechtsextreme Verdachtsfälle in Sicherheitsbehörden

Deutschland: Hunderte rechtsextreme Verdachtsfälle in Sicherheitsbehörden
Ein erster Lagebericht über Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden wurde präsentiert, dennoch bleiben einige Fragen offen

Als „Hardcore-Rechtsextremisten-Material“ klassifizierte der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz jene Bilder und Nachrichten, die Polizisten in Chatgruppen verbreiteten. Aufgeflogen sind sie vor fast einem Monat – geteilt werden die Inhalte aber seit vielen Jahren. Und nicht nur in Nordrhein-Westfalen, auch in Berlin flog eine Gruppe mit 25 Teilnehmern auf, die rechtsextreme und rassistische Nachrichten teilte.

Nun wurde ein Bericht über Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden (Polizei, Zoll und Geheimdiensten) in Bund und Ländern vorgestellt, der Klarheit über rechtsextreme Umtriebe bringen sollte.

Die Bilanz des Berichts, den der Verfassungsschutz auf Grundlage von Daten der Polizei erstellt hat: 319 Verdachtsfälle wurden zwischen Januar 2017 bis März 2020 in den Ländern registriert, 58 im Bund. Dazu kommen über 1000 Fälle bei der Bundeswehr. Nicht im Bericht miteingerechnet: Die jüngsten Vorkommnisse in NRW. Und so musste auch der dortige Innenminister Herbert Reul (CDU) am Dienstag von Düsseldorf Richtung Berlin rufen: „Der Lagebericht ist nicht aktuell.“

Seehofer: „Kein strukturelles Problem“

Innenminister Horst Seehofer (CSU), der am Dienstag flankiert von den Chefs der Sicherheitsbehörden die Zahlen vorstellte, zeigte sich jedenfalls nicht verunsichert. Die Fallzahl sei gering, so Seehofer. Mehr als 99 Prozent der Mitarbeiter stünden „fest auf dem Boden des Grundgesetzes“. Der Bericht bedeute für ihn auch, „dass wir kein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern haben“.

Deutlich anders klang dagegen zuletzt sein Innenministerkollege Reul in NRW, wo gegen die aufgeflogenen Beamten wegen rechtsextremistischer Propaganda ermittelt wird. Vor Wochen meldete man 45 Verdachtsfälle nach Berlin, mittlerweile ist die Zahl auf über 100 angestiegen, erklärte Reul. Er sprach zuletzt davon, dass man nicht mehr von Einzelfällen ausgehen kann.

Eine seit Monaten von SPD, FDP und Grüne geforderte wissenschaftliche Untersuchung zu Rassismus in den Polizeibehörden weist er aber zurück – ebenso Horst Seehofer. Dessen Argument: Man dürfte die Beamten nicht unter Generalverdacht stellen.

Forderung nach Analyse

Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Mathias Middelberg, sieht Handlungsbedarf. Die Fallzahlen des Lageberichts seien zwar mit Blick auf die mehr als 300.000 Mitarbeiter gering, „dennoch sind die mittlerweile bei der Polizei und bei anderen Sicherheitsbehörden erkannten Fälle von Rechtsextremismus und Rassismus keine Einzelfälle mehr“, sagt er der dpa. Es müsse eine „vom Bund koordinierte tiefgehende Analyse“. Auch um herauszufinden, „wann und wie die Beteiligten sich radikalisiert haben, inwieweit nachzuarbeiten ist bei Aus- und Fortbildung und ob es Nachbesserungsbedarf gibt hinsichtlich der Aufdeckung“.

Ob Seehofer dem nachkommt, ist unklar. Er kündigte eine wissenschaftliche begleitete Studie zu Rassismus „in der ganzen Gesellschaft“ an. S. LUMetsberger, Berlin

Kommentare