Der nächste ukrainische Durchbruch
„Die ukrainischen Einheiten werden in der Lage sein, eine Landungsoperation mit kleinen Booten und Barkassen durchzuführen, über die sie in Hülle und Fülle verfügen, sofern es keinen Widerstand gibt.“ Wenn ein prorussischer Telegramkanal wie „Rybar“ Analysen wie diese schreibt, haben die russischen Streitkräfte ein Problem. Am Dienstag mussten die russischen Truppen im Raum Cherson ihre Front am Fluss Inhulets aufgeben und sich weit zurückziehen.
Rasche Vorstöße
Bereits am Montag waren den ukrainischen Streitkräften entlang des Dnepr Geländegewinne gelungen, der breite russische Rückzug von einem Fluss als natürliche Barriere hat aber in einem ansonsten flachen Terrain eine neue Qualität. Derzeit liegen zwischen der neuen Hauptkampflinie und der Stadt Cherson etwa 90 Kilometer. Doch gerade in flachem Gelände kann sich ein Angriff, wie ihn derzeit die ukrainischen Streitkräfte führen, rasch beschleunigen: Sie nutzen kleine Einheiten mit schnellen Fahrzeugen, um so rasch wie möglich tiefe Vorstöße zu erzielen – seit der Gegenoffensive in Charkiw ein bewährtes Mittel gegen die russischen Verbände.
Abhängig davon, ob die russischen Streitkräfte über genügend Luftunterstützung verfügen – am Wochenende versuchten russische Soldaten mangels Kommunikationsmitteln, einen Luftschlag via Telegram anzufordern – könnten sie ziemlich rasch noch mehr Territorium verlieren. Und die ukrainischen Truppen immer näher an Cherson heranrücken.
Symbolträchtig
Die Oblast-Hauptstadt liegt am westlichen Ufer des Dnepr, ist also bislang ein Brückenkopf für die russischen Streitkräfte gewesen, die Cherson am 2. März einnahmen. Für Moskau wäre ein Verlust der Stadt aber nicht nur eine taktische Niederlage: Erst am Freitag verkündete der russische Präsident Wladimir Putin die Annexion des Oblasts Cherson – sollte er die Hauptstadt verlieren, wäre dies eine symbolträchtige Niederlage.
„Mit Blut abwaschen“
Gleichzeitig ist unter den wichtigsten russischen Militärkräften ein heftiger Streit ausgebrochen: Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow beschimpfte den russischen General Alexander Lapin als „Nichtsnutz“ und verlangte: „Wenn es nach mir ginge, würde ich Lapin zum einfachen Soldaten degradieren, seine Auszeichnungen abnehmen und ihn mit einem Maschinengewehr in der Hand an die Front schicken, um seine Schande mit Blut abzuwaschen.“ Der Financier der berüchtigten Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin, sprang ihm bei, kritisierte Generaloberst Lapin, der im Sommer die Auszeichnung „Held der Russischen Föderation“ erhalten hatte, mit ähnlichen Worten.
Beide, Prigoschin und Kadyrow, verfügen über paramilitärische Kräfte im Ukraine-Krieg, auf die die russischen Soldaten bisher angewiesen waren.
Weitere Flüchtlinge
Die heftige Kritik ist insofern bemerkenswert, als dass Lapin bisher die besondere Gunst Putins genoss. Wie Putin reagieren wird, bleibt abzuwarten. Die Teilmobilmachung, die auf Druck von Hardlinern wie Prigoschin und Kadyrow geschah, verläuft aus russischer Sicht nicht optimal, seit der Ankündigung sind allein nach Kasachstan 200.000 Russen ausgereist.
Indes meldete der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu, dass bereits mehr als 200.000 Menschen für die Vorbereitung auf den Kampf eingezogen worden seien. Bis der Großteil dieser Soldaten in den Einsatz geht, dürften die Verluste in Teilen der besetzten ukrainischen Gebiete allerdings rasch weitergehen – auch im Nordosten sind die ukrainischen Truppen weiter auf dem Vormarsch.
Kommentare