Arnulfo Reyes musste den Massenmord an 19 Schülern und zwei Kollegen der Robb-Grundschule im texanischen Uvalde Ende Mai dieses Jahres tatenlos mitansehen und bekam selber eine Kugel ab. Heute sagt der Lehrer desillusioniert: „Wir haben unsere Kinder darauf trainiert, wie Enten unter dem Tisch zu sitzen, wenn es ernst wird.“
Reyes fordert ein neues Denken für den Moment, wenn Metall-Detektoren, Alarm-Systeme, Video-Kameras, automatisch schließende Türen und bewaffnete Sicherheitskräfte, wie sie heute in vielen Schulen der USA fast Standard sind, das Eindringen von Amokläufern nicht verhindert haben, nicht verhindern können. Er will selber zur Waffe greifen dürfen.
Ken Paxton, den Justizminister im US-Bundesstaat Texas, weiß er dabei an seiner Seite. „Wir können böse Leute nicht davon abhalten, böse Dinge zu machen“, sagt der Republikaner, „aber wir können die Lehrer bewaffnen, trainieren und vorbereiten, um Hilfe zu leisten.“
Paxton wie Reyes haben sich überzeugen lassen von Analysen der Bundespolizei FBI. Danach enden Amokläufe in US-Schulen zu 70 Prozent in den ersten fünf Minuten. Weil vor allem in ländlichen Gebieten die Cops oft 15 Minuten und mehr für die Anreise zum Tatort benötigen, wird der Druck größer, Gegenwehr vor Ort zu organisieren. Sprich – durch die Lehrer. Ein heikles Thema, das 130.000 Schulen, 3,7 Millionen Pädagogen und mehr as 54 Millionen Schülerinnen und Schüler bewegt.
Bücher statt Büchse
Für Leute wie Jim Irvine ist der Ruf nach Aufrüstung im Klassenzimmer eine Genugtuung. Seit dem Massaker an der Sandy Hook-Grundschule 2012 in Newtown/Connecticut hat die auch von Spenden der Waffen-Industrie lebende Organisation „FASTER saves lives“ in 300 Schulbezirken in mehr als 20 Bundesstaaten auf freiwilliger Basis rund 3.000 Lehrern Schießunterricht erteilt. Irvines Credo: „Wenn man nur auf Hilfe von außen wartet, werden Dutzende getötet und verletzt.“ FASTER-Kurse boomen derzeit.
Obwohl Schulkinder in mehr als 40 Bundesstaaten regelmäßig auf die Schreckensszenarien in „active shooter drills“ vorbereitet werden, gingen die realen Opferzahlen zuletzt stetig nach oben: Wurden in den Jahren 2013 bis 2017 in den USA 315 solcher Zwischenfälle mit 141 Toten an Schulen gemeldet, waren es zwischen 2018 bis 2022 bereits 628 „school shootings“ mit 207 Opfern.
"Laptop, nicht Waffe"
Entsprechend lauter wird der Ruf, die Schulen „abzuhärten“. Ken Trump hält nichts davon. Der Präsident der „National School Safety and Security Services“ sagt mit Verweis auf nationale Umfragen: „Die überwältigende Mehrheit der Lehrer will mit Lehrbüchern und Laptops bewaffnet sein, nicht mit Waffen.“ Experte David W. Johnson von der Universität in Minnesota sekundiert. Er sieht in der Militarisierung der Kollegen Augenauswischerei: „Was Schulen sicherer macht, ist ein Verbot aller Sturmgewehre durch den Kongress und die flächendeckende Einführung einer Lizenz für Waffenbesitzer.“
Crash-Kurs im Schießen
Lehrer zu Aushilfs-Cops zu machen, ist nichtsdestotrotz nach den jüngsten Massakern in Mode. In 30 Bundesstaaten ist es bereits erlaubt. Der Bundesstaat Ohio hat gerade erst die rechtlichen Grundlagen dafür geschaffen. Wie, das stößt bei Praktikern auf Kritik. In Ohio reicht ein 26-Stunden-Crash-Kurs über drei Tage aus, um die Lizenz dafür zu erhalten, im Klassenraum eine Waffe einsetzen zu dürfen. Zum Vergleich: Ein Polizist im gleichen Bundesstaat muss 700 Übungsstunden nachweisen.
Zur Einordnung: In Uvalde waren bis zu 380 bestens ausgebildete Polizisten im Einsatz. Sie blieben über eine Stunde untätig. Erst danach wurde der 18-jährige Todesschütze ausgeschaltet.
„Wie Lehrer, die in Schnellkursen waffentauglich gemacht werden sollen, in derartigen Stresssituationen der Belastung gerecht werden und zielsicher den Abzug einer Pistole betätigen sollen, ist mir schleierhaft“, sagt Brian Taylor. Der 38-Jährige ist Lehrer in Montgomery County vor den Toren Washingtons.
Wissenschaftler untermauern die Zweifel: „Die Bewaffnung von Lehrern wird das Schusswaffen-Problem an den Schulen nicht lösen“, sagt Professorin Sonali Raja von der Columbia Universität, „alle Untersuchungen weisen eindeutig darauf hin, dass Waffen im Klassenraum zu erhöhter Gewaltanwendung führen und schädliche Effekte für die Schüler haben“.
Nach Angaben von Regierungsstellen in Washington waren bei rund 320 „school shootings“ zwischen 2009 und 2019 mehr als 50 Prozent der Täter ehemalige oder aktive Schüler. „Mehr in die mentale Gesundheit der Kinder zu investieren, frühzeitig bei Auffälligkeiten gegenzusteuern, das wäre neben einer Einschränkung der hohen Verfügbarkeit von Waffen eine Maßnahme mit echter Langzeitwirkung“, sagen viele Experten.
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