Dass die „Grand Old Party“ Repräsentantenhaus und Senat zurückerobern würden, galt bis vor Kurzem als Gewissheit bei Washingtoner Steh-Empfängen. Zu sehr hätten Inflation, Tankstellen-Preise und innerparteiliche Blockaden an der Reputation der Demokraten und des Weißen Hauses genagt.
Die Vorab-Siegesbekundungen für die GOP sind nahezu verstummt. Konservative Medien wie das Wall Street Journal warnen vor einem bösen Erwachen am 8. November. Die Faustregel, wonach die Partei des Präsidenten bei den „midterms“ abgewatscht wird, drohe nicht mehr zu ziehen.
Der Wetterumschwung folgt – neben den jüngsten semi-kriminellen Dokumenten-Versteckspielen Trumps mit dem FBI – einer Reihe von Errungenschaften, die sich Biden und die Demokraten ans Revers heften können: das mit 440 Milliarden $ historisch größte Konjunkturpaket für Soziales und Klimaschutz in der US-Geschichte, ein staatliches 280 Mrd.-Dollar-Programm zur Fertigung von Halbleitern in den USA, um der Abhängigkeit von Asien zu entgehen. Dazu seit Wochen sinkende Benzinpreise und außenpolitische Erfolge wie die Liquidierung des Osama Bin-Laden-Erben Aiman al-Sawahiri.
Auch das frischeste Beispiel für Biden’schen Tatendrang könnte aus Sicht von Analysten die Wahl im November zugunsten der Demokraten beeinflussen: Ein Schuldenerlass für Ex-Studenten, die ihre Hochschulausbildung via bundesstaatliche Kredite auf Pump finanziert haben. Zwischen 10.000 $ und 20.000 $ werden ihnen gestundet, hat Biden am Mittwoch verkündet, sofern ein Jahreseinkommen von 125.000 $ (bzw. 250.000 $ für Verheiratete) nicht überschritten wird. Potenzielle Profiteure? Rund 30 Millionen Amerikaner.
Nach Hochrechnungen diverser Institute verzichtet der Fiskus damit auf Summen zwischen 300 Milliarden und 600 Milliarden Dollar. „Sozialistische Beglückung, um jüngere Wähler an die Urnen zu locken“, geifern die Republikaner. Und drohen mit Klagen, weil Biden das Ding auf dem Verordnungsweg allein durchgezogen hat. Der Kongress blieb bisher außen vor.
Dort wurden zuletzt von höchster republikanischer Stelle Zweifel an der eigenen Eignung laut. Der von Donald Trump gehasste mächtigste Mann im Senat, Mitch McConnell, sagte kaum verklausuliert, dass es seiner Partei schlicht an Kandidaten von allgemein gut vermittelbarem Format fehlt, um im „Oberhaus“ zur bestimmenden Kraft zu werden. McConnells diplomatisch formulierte Invektive zielte auf Dutzende radikal-extreme „Trumpisten“, die der frühere Präsident persönlich gefördert hat, weil sie seine Lüge vom Wahlbetrug 2020 in ihr Wahlprogramm integriert haben.
Wie ein Mühlstein am Hals hängt den Republikanern zudem der anfänglich fast flächendeckende parteiinterne Jubel über das Supreme-Court-Urteil zum Dauerbrenner Abtreibung.
Für Joe Biden sind die frischen Hoffnungsschimmer aus den Umfragen potenziell existenzentscheidend. Bleibt der große Durchmarsch der „Reps“ im November aus, behalten die „Dems“ etwa im Senat das Heft des Handels in der Hand, könnte er sich kurz danach veranlasst sehen, seine Wiederwahlkampagne für 2024 zu starten.
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