Corona-Proteste in Deutschland: Ein neues Virus grassiert
Als gäb's kein Corona – knapp Tausend Menschen drängen sich am Samstag um den Berliner Alexanderplatz. Einige haben Plakate dabei mit Aufschriften wie "Freiheit", "Widerstand", "Wir sind das Volk". Viele halten ihre Smartphones gezückt und filmen. Als Flaschen geworfen werden, rückt die Polizei näher.
Gleich in mehreren deutschen Städten kam es am Wochenende zu Protesten. In Stuttgart, München, Nürnberg, Frankfurt, Köln – und in ländlichen Regionen, wie bei Görlitz in Sachsen. Dort versammelten sich Hunderte entlang der Bundesstraße 96.
Die Demonstranten kommen aus den unterschiedlichsten Ecken. Es sind Rechts- und Linksextreme, Verschwörungstheoretiker, Bürgerrechtler, Reichsbürger, Esoteriker, Impfgegner und Bürger, die sich keinem Milieu zuordnen lassen. Was sie eint: Sie halten die "Corona"-Maßnahmen für willkürlich oder überzogen.
Und so stehen derzeit Menschen Seite an Seite oft ohne Mundschutz und Abstandsregel, die Bill Gates für den heimlichen Weltführer halten, sich einen gelben Stern mit der Aufschrift "ungeimpft" angeheftet haben neben jenen, die mit Grundgesetz in der Hand auf ihre Rechte verweisen oder einfach nicht verstehen, warum die Bundesliga Mitte Mai wieder loslegen darf, aber Kitas geschlossen bleiben.
Gefahr für die Demokratie?
Hedwig Richter, Historikerin und Expertin für Demokratiegeschichte an der Universität der Bundeswehr in München, überrascht das nicht. "Es ist normal, dass Krisensituationen zu Stress führen, die Menschen nach Erklärungen suchen." Dass sich dabei Menschen aus völlig unterschiedlichen Welten, von rechts- wie linksaußen, treffen, verwundert sie ebenso wenig. "Was diese Protagonisten zusammenbringt, ist ein prinzipielles Misstrauen gegen das System." So ist etwa Microsoft-Gründer Bill Gates, den Verschwörungstheoretiker für den Virusausbruch verantwortlich machen, in beiden Lagern eine Hassfigur: "Da kommt Kapitalismus-Kritik mit dem Misstrauen gegenüber Eliten zusammen, die wenn sie Geld haben, nur Böses im Sinn haben können."
Dass sich der Frust und die Unzufriedenheit einiger nun auf der Straße niederschlägt, beunruhigt sie nicht – "selbst, wenn die Proteste anschwellen, ist es eine Minderheit". Die Mehrheit stehe, auch wenn die Zustimmung leicht rückgängig sei, zu den Maßnahmen. Ohnehin würden diese zunehmend gelockert. "Dass einige Regeln derzeit vor Gerichten verhandelt werden, belegt, dass es eine lebendige Diskussionskultur und wachsame Bevölkerung gibt."
Bei vielen dringt dies aber nicht durch. In sozialen Netzen verbreiten sich Fake News und nach Verschwörung klingende Theorien ungebremst und angetrieben von YouTubern oder Influencer, die auf ihren sozialen Kanälen hunderttausende Menschen erreichen, wenn sie Videos teilen, empfehlen oder zu Demos aufrufen.
Holger Münch, Chef des Bundeskriminalamts, beobachtet die Entwicklungen der letzten Woche mit Sorge. Vor allem aus dem rechten Lager gibt es Versuche, bürgerliche Proteste "zu kapern", erklärt Münch. Die Verschwörungstheoretiker seien dabei nicht zwangsläufig mehr geworden. Aus allen Bereichen habe eher eine Themenverschiebung hin zu Corona stattgefunden.
Männer anfälliger für Verschwörungstheorien
Für Theorien dieser Art sind vor allem jene anfällig, denen das Grundvertrauen in das politische System fehlt, sagt Historikerin Hedwig Richter. Dabei zeigt sich ein Unterschied zwischen den Geschlechtern: Männer, die Probleme mit Ambivalenzen und Unsicherheiten haben, werden davon eher angezogen als Frauen. Was laut dem Soziologen Michael Butter überhaupt an einer Krise der Männlichkeit liegt: Ihre Position in der Gesellschaft hat sich verändert, das Selbstbild des Ernährers gerät ins Wanken. Da sucht man Halt in klaren Weltbildern und einfachen Erklärmodellen.
Auch in Coronazeiten, wo Experten in Medien omnipräsent sind, werden diese schnell zum Feindbild. "Es gibt immer wieder neue Argumente, Ansätze, nichts ist in Stein gemeißelt – was Wissenschaft ausmacht, überfordert viele", so Richter. Beim Versuch damit zurechtzukommen, scheitern manche – "es ist einfacher, alles auf eine Verschwörung zu verkürzen".
Vergleiche mit 1933 und SED-Zeit
So glauben manche an von Eliten geplante Machenschaften, alles zu kontrollieren - inklusive Zwangsimpfungen. Anhänger solcher Theorien finden sich auch in der Gruppe "Widerstand2020", die es vom Internetphänomen auf die Straße geschafft hat. Sie wurde von einem Juristen, einem HNO-Arzt und einer mittlerweile ausgestiegenen Psychologin gegründet. Die Gruppe übt Kritik an den "Systemparteien", spricht sich für die "Auflösung von bestehenden Machtstrukturen" aus. Ein Mitgründer, HNO-Arzt Bodo Schiffmann, behauptet auf seinem YouTube-Kanal, Corona sei nicht gefährlicher als die Grippe und die Maßnahmen seien wie die Ermächtigungsgesetze von 1933. Damals erhielt die Regierung Hitlers für vier Jahre die Erlaubnis, Gesetze ohne Zustimmung des Parlaments zu erlassen.
Es ist ein gängiges populistisches Mittel, das genauso wie die Vergleiche mit der SED-Diktatur benutzt wird, erklärt Hedwig Richter. "Für einen Teil der Menschen spielt es keine Rolle, was passiert oder in den Medien steht: Dass sie ihre Kritik öffentlich äußern können und es eine Pressefreiheit gibt, was zu DDR-Zeiten nicht der Fall war." Die Chancen der Gruppe, sich als Partei zu etablieren, hält sie aber für gering. Zudem gibt es mit der AfD schon eine Partei, die sich als "Systemkritiker" sieht.
AfD sucht Weg aus dem Corona-Tief
Um die AfD ist es aber zunehmend still geworden, sie rutschte in den Umfragen unter zehn Prozent und wusste nicht, wie sie mit Corona umgehen soll. Während sie der Regierung anfangs Untätigkeit vorwarf und Maßnahmen verlangte, übt sie sich nun als Anti-Lockdown-Partei. Als Angela Merkels Kritik am Vorgehen einiger Ministerpräsidenten aus einer CDU-Sitzung durchsickerte ("Öffnungsdiskussionsorgien"), griff die Partei das dankbar auf, stellte Merkel als autoritäre Herrscherin dar. Und bedient sich seither wieder einer Erzählung, die schon bei anderen Themen griff - im Sinne von: Die Regierung bzw. Angel Merkel liquidiere alle Freiheiten, baue eine "Corona-Diktatur" auf.
Allerdings ist sich die Partei in ihrem Kurs nicht ganz einig, es blitzen auch Unstimmigkeiten auf. So fordert die Parteispitze in einem Positionspapier, den Shutdown zu beenden, gleichzeitig lobt sie die Wirksamkeit der damit einhergeheden Grenzkontrollen. Fraktionschefin Alice Weidel äußerte sich im Tagesspiegel gar gemäßigt über Hygiene- und Abstandsregeln. Dann wurden aber wieder mehrere AfD-Politiker bei Protesten gegen die Corona-Beschränkungen gesehen - als Teilnehmer und Organisatoren.
FDP auf schmalem Grat
Für Parteien wie die liberale FDP werden die Proteste ebenfalls zu einem Blanceakt. FDP-Chef Christian Lindner, stimmte wie alle anderen für den Lockdown der Bundesregierung, begann ihn dann aber zu kritisieren und sprach schnell von einem "Maulkorb". Einen Begriff, der mittlerweile in der AfD oft zu hören ist. Die Liberalen haben also das Problem, dass sie in der Opposition auffallen wollen, gerade als freiheitliche Partei der Bundesregierung genau auf die Finger schauen, Grundrechte verteidigen, aber nicht in den Verdacht kommen wollen, die Pandemie zu unterschätzen.
Unglücklich sind daher Parteikollegen über den Auftritt des thüringischen Kurzzeit-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich bei einem Protest-"Spaziergang" in Gera. Der Mann, der sich vor Monaten mit Stimmen der AfD zum Landeschef wählen ließ und ein politisches Beben auslöste, war dort wie die meisten anderen ohne Mundschutz unterwegs. Es herrschte dichtes Gedränge. Zudem wurde der Marsch nach Tagesspiegel-Recherchen von stadtbekannten Rechtsradikalen organisiert. Kemmerich wurde von einem Redner, wie ein Video zeigt, als "einzig legitimer" Ministerpräsident vorgestellt, den quasi die Kanzlerin verhindert hätte.
Kemmerich, der nach der Kritik von Parteikollegen, erklärte, beim nächsten Mal Mundschutz zu tragen, wurde von Parteichef Lindnern via Twitter gerügt. "Die Aktion von @KemmerichThL schwächt unsere Argumente. Ich habe dafür kein Verständnis", schrieb Lindner am Sonntag auf Twitter. Und: "Wer sich für Bürgerrechte und eine intelligente Öffnungsstrategie einsetzt, der demonstriert nicht mit obskuren Kreisen und der verzichtet nicht auf Abstand und Schutz."
Wie gehen Linke und Grüne mit den Protesten um?
Auch in anderen Parteien, deren Klientel tendenziell regierungskritisch ist auch mit Blick auf die Eindämmungsmaßnahmen, werden die Demos kritisch gesehen. "Proteste sind das gute legitime Recht der Menschen", erklärte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) gegenüber der taz. Dennoch: "Bei diesen Kundgebungen ist derzeit viel Unwahrheit und Motivation aus ganz anderen politischen Suppen dabei."
Ähnlich sieht es Konstantin von Notz, stellvertretender Fraktionssprecher der Grünen im Bundestag. Seine Partei hat auch in den eigenen Reihen mit Impfgegnern zu tun. Mit Blick auf die aktuellen Proteste weist er aber daraufhin, dass dort auch all jene mitlaufen, "die das System grundsätzlich infrage stellen und Politiker insgesamt für Marionetten von George Soros und Bill Gates halten", erklärte er der Augsburger Allgemeinen Zeitung.
Grünen-Parteichef Robert Habeck ortet zudem Versäumnisse: Man müsse den Bürgern die Gründe für Entscheidungen und die Lage besser erklären. Auch das Sammelsurium an verschiedenen Regeln wäre ein Problem. Wenn die Länder das Krisengeschehen unterschiedlich interpretierten, erwecke dies nicht den Eindruck von kontrolliertem Handeln. Deswegen sei es wichtig, dass "namentlich die Bundeskanzlerin das Heft des Handelns zurück in die Hände bekommt".
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