China und Japan drohen einander: Alte Feinde streiten um Taiwan
Plötzlich zerfetzen zwei F-16-Kampfjets die Wolkendecke über Tainan, jener Stadt, die lange Zeit Taiwans Hauptstadt war. Tief unter ihnen blickt eine Statue der Seefahrergöttin Mazu aufs Meer. Von dort aus war der chinesische Feldherr Zheng Chenggong 1662 gelandet und hatte die niederländischen Besatzer vertrieben. Und auch heute droht eine erneute Invasion aus dieser Richtung.
Röhrende Kampfjets sind auf Taiwan längst traurige Normalität geworden, sie müssen mehrmals täglich aufsteigen. Mehr als 3.000 Luftraumverletzungen durch chinesische Flieger verzeichnete das Militär im Vorjahr – mehr als doppelt so viele wie 2023. Der militärische Druck durch China, das die Insel für sich beansprucht, nimmt stetig zu.
Shi Yu, die kleinste der von Taiwan kontrollierten Kinmen-Inseln, liegt nur vier Kilometer vor der Küste Chinas. Im Hintergrund ist die chinesische Millionenstadt Xiamen zu sehen.
Die Alltäglichkeit der Drohgebärden ist chinesisches Kalkül. Sie führt dazu, dass der Konflikt für viele Menschen kaum noch Nachrichtenwert bietet. Dabei ist die Taiwan-Straße eine der meistbefahrenen Handelsrouten der Erde – ein Krieg dort hätte dramatischere Folgen für die Weltwirtschaft als jener in der Ukraine.
In dieser Woche blickte die Welt wieder mit Sorge auf Taiwan, denn zwischen den Nachbarn China und Japan ist wegen der Insel ein heftiger diplomatischer Schlagabtausch ausgebrochen – militärische Drohungen inklusive.
Japans neue Premierministerin Sanae Takaichi bricht mit der Tradition
Es war zu erwarten, dass Japans neue Premierministerin Sanae Takaichi früher oder später einen Zwist mit China vom Zaun brechen würde. Die 63-Jährige ist eine stramme Nationalistin, bekannt für scharfe Äußerungen gegenüber der Volksrepublik.
Erst im Sommer hatte sie Taiwan besucht und sich mit Präsident Lai Ching-te getroffen – für Peking ist das eigentlich ein Rotes Tuch. Doch dann sprach sich Takaichi kurz nach ihrem Amtsantritt überraschend mit Chinas Machthaber Xi Jinping aus. Der erklärte sich sogar bereit, die “für beide Seiten vorteilhafte Beziehung voranzubringen“. Keine zwei Wochen später ist das Verhältnis belastet wie selten zuvor.
Takaichi hatte als erste japanische Regierungschefin mit der Doktrin der “strategischen Ambiguität“ gebrochen – ganz nach dem Vorbild der USA hatte Japan stets offengelassen, ob man Taiwan im Falle einer Invasion militärisch beistehen würde.
Japans neue, nationalistische Regierungschefin Sanae Takaichi brach mit der Tradition der "strategischen Ambiguität".
Bei einer parlamentarischen Befragung sagte die Premierministerin am 7. November, der Einsatz von Kriegsschiffen in der Taiwan-Straße könnte für Japan “eine existenzbedrohende Situation darstellen“. Die Formulierung ist entscheidend, schließlich erlaubt das japanische Sicherheitsgesetz dem Militär seit 2015 die Aktivierung der Selbstverteidigungskräfte, “wenn ein Angriff auf einen Verbündeten eine existenzielle Bedrohung für Japan darstellt.“
Japan rüstet vor allem wegen Chinas Drohungen gegenüber Taiwan auf
Takaichis Aussage ist ein Bruch mit bisherigen diplomatischen Gepflogenheiten, fußt aber auf einer gewissen Logik. Seit Jahren warnen militärische Beobachter davor, dass China bei einem großflächigen, amphibischen Angriff auf Taiwan zwangsläufig japanische Hoheitsgewässer durchqueren müsste.
Auch deshalb fordert Takaichi seit Jahren eine Änderung der pazifistischen Verfassung, aktuell fehlt ihr dafür jedoch die Mehrheit im Parlament. Japans Aufrüstung nimmt dagegen bereits Form an: 2022 kündigte Tokio an, das Verteidigungsbudget auf 300 Milliarden Dollar zu heben, mehr als die Hälfte ist bereits verplant. Unter anderem für Hyperschallwaffen und unbemannte Systeme, die Japan ermöglichen sollen, feindliche Raketen-Abschussrampen zerstören zu können. Zum Beispiel auf dem chinesischen Festland.
Heftige chinesische Drohungen riefen eine Reaktion der USA hervor
Eine erste chinesische Reaktion fiel daher wenig entspannt aus: “Wenn du deinen dreckigen Hals dort hin reckst, wo er nicht hingehört, wird er abgeschnitten werden. Bist du dafür bereit?“, drohte Chinas Generalkonsul in Osaka in einem inzwischen gelöschten Beitrag auf der Plattform X.
Empört zitierte Japan Chinas Botschafter ins Außenministerium. China tat dasselbe und legte mit einem scharfen Regierungsstatement nach: “Wer es wagt, sich in Chinas Einigungsprozess einzumischen“, dem drohe “eine krachende Niederlage“.
Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping schließt militärische Mittel zur "Wiedervereinigung" mit der demokratischen und de-facto unabhängigen Insel Taiwan seit 2019 nicht mehr aus.
Chinas Marine führte in dieser Woche “geplante, routinemäßige“ Manöver in unmittelbarer Nähe der japanischen Senkaku- und Diaoyu-Inseln durch, die beide Nationen für sich beanspruchen. Das rief eine Reaktion der USA hervor: “Die Vereinigten Staaten stehen uneingeschränkt hinter der Verteidigung Japans, wozu auch die Senkaku-Inseln gehören“, schrieb George Glass, US-Botschafter in Tokio, auf X.
Tourismus als Waffe - China warnt vor Reisen nach Japan
Der aufgeheizte Streit ist das Ergebnis zweier nationalistischer Regierungschefs, die damit ihre jeweilige Aufrüstungspolitik begründen können. Entsprechend schlecht stehen die Zeichen für ein baldiges Tauwetter: Erst am Dienstag trafen sich japanische und chinesische Diplomaten zur Aussprache in Peking. Sie blieb ergebnislos.
Frostige Stimmung: Die Unterhändler Masaaki Kanai (Japan, links) und Liu Jinsong (China, rechts) versuchten am Dienstag vergeblich, die Wogen zwischen ihren beiden Nationen zu glätten.
Die chinesische Regierung riet der eigenen Bevölkerung inzwischen, von Reisen nach Japan abzusehen. Das ist ein wirtschaftlicher Hebel: In diesem Jahr waren mehr als ein Fünftel aller Auslandstouristen in Japan Chinesen. Einige staatliche Fluglinien boten bereits Rückerstattungen für gebuchte Japan-Flüge an.
Wie Ökonomen des Nomura-Instituts in Tokio vorrechneten, würde ein Rückgang der Touristenzahlen aus China um 25 Prozent Japans angeschlagene Wirtschaft im nächsten Jahr mindestens 14,6 Milliarden US-Dollar kosten. 25 Prozent deshalb, weil die Touristenzahlen beim letzten großen diplomatischen Konflikt um die Senkaku-Inseln im Jahr 2012 um diesen Wert eingebrochen waren, als China eine Reisewarnung ausgesprochen hatte.
Kein Gipfeltreffen beim G-20-Gipfel, keine Kinopremiere in China
Ein geplantes Treffen zwischen Takaichi und Chinas Premierminister Li Qiang am Rande des G-20-Gipfels an diesem Wochenende wurde abgesagt, ebenso wie das jährliche Peking-Tokio-Wirtschaftsforum – und die Premiere des japanischen Anime-Films “Demon Slayer: Infinity Castle“ in China.
In Taiwan dürfte der Film dagegen Rekorde brechen. Die Inselbewohner sind der japanischen Kultur seit Jahrzehnten zugeneigt, aktuell aber mehr denn je. Taiwans Präsident Lai Ching-te reagierte mit einem humorvollen Beitrag auf die angespannte Situation. Er postete ein Foto mit japanischen Speisen und schrieb: "Heute gibt es Sushi und Misosuppe."
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