China schrumpft: Die dramatischen Folgen der Ein-Kind-Politik
Spätestens seit der Jahrtausendwende hatte es sich abgezeichnet, nun ist der Moment, den die chinesische Regierung so lange gefürchtet hat, ein gutes Jahrzehnt früher gekommen als erwartet: Zum ersten Mal seit der großen Hungersnot vor sechzig Jahren ist Chinas Bevölkerung im vergangenen Jahr wieder geschrumpft.
Wie die Pekinger Statistikbehörde bekannt gab, hat sich die Einwohnerzahl 2022 um rund 850.000 verringert. Das Reich der Mitte ist damit weiter Heimat von knapp 1,41 Milliarden Menschen – und dürfte in den nächsten Monaten seinen Rang als einwohnerreichste Nation der Erde an den ungeliebten Nachbarn Indien verlieren.
Für den chinesischen Stolz ist das ein schwerer Schlag. „Selbst in den wirtschaftlich und politisch schwierigen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat China seinen Machtanspruch darauf gestützt, dass man immer das größte Volk der Welt war“, sagt die Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik zum KURIER.
Dabei hat die Regierung in Peking den Niedergang der Geburtenrate mit der Ein-Kind-Politik über Jahrzehnte selbst herbeigeführt.
Als die Versorgungssicherheit der rasant wachsenden Bevölkerung im Anschluss an den chinesischen Bürgerkrieg nicht mehr gewährleistet war, wurden in China Mehrkindfamilien seit den 1980er-Jahren systematisch benachteiligt. Eltern von mehr als einem Kind verloren in besseren Fällen ihren Arbeitsplatz, im schlimmsten Fall drohten ihnen Gefängnisstrafen – oder in einzelnen Fällen Zwangssterilisationen.
Aus Sicht der Staatsführung war die Ein-Kind-Politik zunächst ein voller Erfolg und half bei der blitzschnellen Entwicklung des Landes. Zum Beispiel im Bildungssystem, wo viel weniger Geld vom Staat nötig war, da das klassische chinesische Einzelkind alle zur Verfügung stehenden Ressourcen der beiden Eltern erhalten habe. „Die chinesische Führung war offenbar der Meinung, dass man so lange von der Ein-Kind-Politik profitieren könnte, wie es nur geht“, sagt Weigelin-Schwiedrzik.
Heute drei Kinder empfohlen
Im Glauben, jederzeit die Kontrolle über das Wachstum der eigenen Bevölkerung zu haben, hob die Regierung die Geburtenkontrolle 2016 offiziell auf und gestattete fortan jeder Familie zwei Kinder. Seit Mai 2022 werden ausdrücklich drei Kinder pro Familie empfohlen und Mehrkindfamilien Steuererleichterungen angeboten.
Doch die Anreize blieben wirkungslos. Der staatliche Eingriff in die Familienplanung hat Chinas Bevölkerung unumkehrbar verändert. In keinem Land der Welt gibt es heute im Vergleich einen so geringen Anteil an Frauen im gebärfähigen Alter. Seit 1980 wurden infolge der Ein-Kind-Politik 30 Prozent mehr Männer als Frauen geboren – vor allem aus wirtschaftlichen Gründen aufgrund der besseren Karrierechancen im männlich dominierten China.
Dazu kommt, dass mit dem steigenden Wohlstand seit Jahrzehnten auch das Durchschnittsalter von chinesischen Eltern steigt. Eine Entwicklung, die weltweit in wohlhabenderen Ländern zu beobachten ist.
Chinas Ziele in Gefahr?
Ist die nicht nur schrumpfende, sondern gleichzeitig rasant alternde Bevölkerung auch eine Gefahr für die Ambitionen Chinas, die USA bald als größte Volkswirtschaft der Welt abzulösen?
Ja, meint die Expertin Weigelin-Schwiedrzik: „Die demografische Situation macht die Arbeitskraft in China in Zukunft immer teurer. Als Produktionsstandort wird man damit im internationalen Vergleich künftig nicht mehr so vorteilhaft dastehen, wie man das seit den 1970er-Jahren getan hat.“ Internationale Unternehmen würden ihre Produktion künftig wohl stärker nach Südostasien oder Indien auslagern.
Chinas Regierung versuche daher schon jetzt fieberhaft, Arbeitskräfte in der Produktion durch Maschinen zu ersetzen: „Die fortschrittlichsten, am weitesten automatisierten Fabriken der Welt stehen heute in China.“
Die wohl größte Herausforderung für Peking dürfte jedoch sein, das alternde Volk künftig mit fairen Pensionen zu versorgen. Schon heute ächzt das ungleiche Pensionssystem unter den Folgen der Ein-Kind-Politik, der Anteil der arbeitenden Bevölkerung erreichte seinen Höhepunkt in China bereits 2014. Prognosen zufolge dürften Pensionisten schon 2080 in der Überzahl sein – dann dürften in China mit ca. 700 Millionen nur noch halb so viele Menschen leben wie heute.
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