Einen großen Wunsch formulierte der 39. Präsident der Vereinigten Staaten schon vor einiger Zeit: Er wolle durchhalten, um bei der heurigen Wahl seine Stimme Parteikollegin Kamala Harris zu geben. Nun, der gesundheitlich angeschlagene Jimmy Carter, der am 1. Oktober seinen 100. Geburtstag feiert, hat es fast geschafft. In seinem Heimatbundesstaat Georgia werden die Briefwahlunterlagen dieser Tage verschickt.
Zu Jahresbeginn 2023 war bekannt geworden, dass die Ärzte dem Demokraten im Kampf gegen seine Krebserkrankung nicht mehr helfen konnten. Der 99-Jährige wurde in sein bescheidenes Zuhause in palliative Hospiz-Hilfe übergeben. Eine Welle der Anteilnahme rollte ins idyllische Plains, wo Carter am 1. Oktober 1924 geboren worden war.
Mit ehrlicher Anteilnahme für Carter und seine seit 77 Jahren mit ihm verheiratet gewesene Gattin Rosalynn, die im November des Vorjahres im Alter von 96 Jahren starb, zollte das Land parteiübergreifend Respekt einem Mann, der in seinem Leben oft unterschätzt wurde.
Wie kam Amerika überhaupt zu ihm?
Nach dem Albtraum von Vietnam und Richard Nixons Machtwahn im Watergate-Skandal sucht die traumatisierte Nation nach Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Bodenständigkeit an der Spitze. Und nach Integrität.
Kaum jemand verkörperte diese Qualitäten 1977 authentischer als der abseits des Washingtoner Klüngels groß gewordene Provinzpolitiker, der es in Georgia mit Charme und Fleiß zum Gouverneur brachte. Carter, Erdnussfarmer, Unterseebootfahrer und Nuklear-Ingenieur mit Abschluss an der renommierten Militär-Akademie in Annapolis/Maryland, bezwang den Republikaner Gerald Ford.
Aber schon kurz danach ging es mit seiner Präsidentschaft bergab. Zu zaudernd, zu pedantisch und am Ende auch zu glücklos agierte der in eigenen Reihen oft als Hinterwäldler belächelte Demokrat, der seine erste Fernseh-Ansprache an die Nation in einer Strickjacke hielt.
Dass er 1979 auf dem Höhepunkt der Wirtschafts-Malaise mit hohen Öl-Preisen und galoppierender Inflation etwas sehr Unamerikanisches tat und seinem auf Überfluss trainierten Volk Verzicht predigte, ist unvergessen: „In einer Nation, die stolz war auf harte Arbeit, starke Familien, eng zusammenhaltende Gemeinschaften und den Glauben an Gott“, sagte Carter, „neigen nun zu viele von uns dazu, Genusssucht und Konsum anzubeten.“
Zu innenpolitischen Pleiten kamen außenpolitische Nadelstiche, die das Bild des Versagers zementierten. Die Sowjetunion marschierte in Afghanistan ein. Und der Iran nahm die US-Botschaft in Teheran in Geiselhaft. Eine Befreiungsaktion misslang kläglich. Erst unter Nachfolger Ronald Reagan wurde die Krise gelöst. Nach 444 Tagen der Demütigung. Entschieden zu lange, um Carters Pluspunkte jedenfalls damals ausreichend zu würdigen.
Er war es, der die Beziehungen zu China normalisierte und nie amerikanische Soldaten in einen Krieg schickte, mit der Sowjetunion aber einen großen Abrüstungsvertrag unterzeichnete. Er war es, der 1978 auf dem US-Präsidentenlandsitz Camp David den historischen Friedensschluss zwischen Israel (Premier Menachem Begin) und Ägypten (Präsident Anwar El Sadat) im wahrsten Sinne des Wortes herbeibetete.
Auch darum wurde der tief gläubige Sohn eines Kaufmanns und einer Krankenschwester, der später den Einsatz für Menschenrechte und die Dritte Welt zu seinem Lebensinhalt gemacht hat und 2002 dafür den Friedensnobelpreis erhielt, in den vergangenen Jahren mehr denn je wertgeschätzt: Als Beispiel für Standhaftigkeit und Moral.
Als James Earl Carter 1981 nach der Niederlage gegen Reagan in Washington die Koffer packte, überreichte ihm sein Stab als Abschiedsgeschenk einen Werkzeugkasten mit Hammer, Hobel und Holzleim. Carter tischlerte damit auf der heimischen Erdnuss-Farm ein neues Ehebett. Und so manche Wiege für die Enkelkinder.
Später stellte er seine handwerklichen Fähigkeiten und seinen Gemeinsinn in den Dienst von „Habitat for Humanity“. Die Hilfs-Organisation zimmert weltweit sozial Schwachen ein Dach über den Kopf. Seit 1984 nahm sich Carter dafür noch bis vor Kurzem mit seiner Frau jedes Jahr eine Woche Zeit.
Unvergessen sind Fotos, die den sichtlich malträtierten Carter kurz nach einem Sturz in der heimischen Wohnung mit Schutzbrille und Helm auf einer Baustelle zeigten. Pflichterfüllung ging ihm über alles. Dass Jimmy Carter zuletzt nicht nur bei den Demokraten eine Renaissance erlebte und etwa vor der Wahl 2020 von Präsidentschaftskandidaten um Rat gebeten wurden, liegt an den Zeitläuften.
Soziale Ungleichheit, die Rechte von gesellschaftlichen Minderheiten, der Ressourcen-Raubbau an Mutter Erde, Demokratie und Wahlrecht, Friedensdiplomatie statt Raketen-Rhetorik: All das, was die neuen Progressiven links der Mitte forcieren und von dem sich der amtierende Präsident Joe Biden bei seinem „Green New Deal“ einiges abgeschaut hat, das waren schon vor 40 Jahren seine Themen.
Jimmy Carter war es, der seinen Landsleuten den unstillbaren Durst auf das Öl der Scheichs abgewöhnen wollte und Solarzellen aufs Dach des Weißen Hauses montieren ließ. Carter war es, der sich mit seinem „Carter Zentrum“ in Atlanta, einer Art Privat-Außenministerium, neben der Konfliktvermittlung in Haiti, Bosnien, Nordkorea und Kuba auch um die Ausrottung von Infektionskrankheiten kümmerte, wie sie der Guineawurm auslöst.
Viele Amerikaner können sich immer noch hinter einem alten Satz des Folksängers Tom Paxton versammeln: „Jimmy Carter war kein großer Präsident, aber er ist ein großartiger Ex-Präsident.“
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