EU verkündet Stopp für Türkei-Gespräche
Die Europäische Union zieht erstmals konkrete Konsequenzen aus den Ereignissen nach dem Putschversuch in der Türkei. Deutschland und andere Mitgliedstaaten folgten am Dienstag zwar nicht den Forderungen Österreichs und des Europaparlaments, die EU-Beitrittsgespräche mit dem Land einzufrieren. Bei einem Ministertreffen in Brüssel wurde allerdings erstmals offiziell festgehalten, dass die Verhandlungen angesichts der aktuellen Verhältnisse in der Türkei nicht weiter ausgeweitet werden.
Bisher hatten lediglich einzelne Mitgliedstaaten zu verstehen gegeben, dass sie derzeit keine neuen Verhandlungskapitel öffnen wollen. Mit dem Ausweitungsstopp für die Türkei-Gespräche reagiert die EU vor allem auf das Vorgehen türkischer Behörden gegen Medien und Oppositionspolitiker. Es sei klar, dass es in Bereichen wie Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit eher Rückschritte als Fortschritte gebe, kommentierte der für Deutschland verhandelnde Staatsminister Michael Roth. "Niemand ist mit den derzeitigen Entwicklungen in der Türkei zufrieden."
Österreich sorgt für Eklat
Für einen Eklat sorgte beim Ministertreffen allerdings die österreichische Forderung nach einem Einfrieren der Verhandlungen. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz blockierte letztendlich sogar eine gemeinsame Erklärung aller EU-Staaten, weil sich andere Länder nur auf einen Ausweitungsstopp, nicht aber auf ein Einfrieren der Verhandlungen einlassen wollten. Kurz machte deutlich, dass er mit seinem Veto auch den Abgeordneten im Europaparlament den Rücken stärken wollte. Diese hatten sich vor kurzem mit großer Mehrheit für ein Einfrieren der Verhandlungen ausgesprochen. "Ich glaube, dass das Europäische Parlament, das aus den gewählten Vertretern unserer Bevölkerung besteht, durchaus eine gewissen Relevanz haben sollte", kommentierte Kurz.
"Es geht überhaupt nicht darum, Türen zuzuschlagen oder nicht mehr im Gespräch zu bleiben", sagte Kurz. Es gehe darum, ein politisches Signal zu setzen und der Türkei nicht weiter vorzugaukeln, dass der Beitritt in die EU nahestehe. 27 EU-Staaten unterstützten nach Angaben des schwedischen Botschafters Lars Danielsson eine gemeinsame EU-Linie zur Türkei. "Österreich blockiert die Schlussfolgerungen des Allgemeinen Rates wegen der Türkei. Aber Konsens unter den anderen 27", twitterte der EU-Botschafter am Dienstag:
"Es ist ein für alle Mal klar, dass keine weiteren Kapitel mit der Türkei eröffnet werden"
Am vehementesten sei Großbritannien für die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei eingetreten, sagte Kurz, der dies nicht nachvollziehen kann, da Großbritannien selbst nicht mehr dem Projekt der Europäischen Union angehören möchte. "Wir haben natürlich Verbündete gehabt, sonst hätte sich der Text nicht so weit verändert", sagte der Außenminister in Hinblick auf das Statement der slowakischen EU-Präsidentschaft. Großbritannien sei immer hart bei Russland, gab Kurz zu bedenken.
"Sympathieträger gab es einige", so Kurz. Die Niederlande hätten sich sehr stark eingebracht, "der große Verbündete ist das Europäische Parlament". Es sei "keine Überraschung", dass die Meinungen zur Türkei unterschiedlich seien.
"Ich halte das noch nicht für verantwortungsvolle Außenpolitik"
Die Zypern-Gespräche könnten scheitern, der Flüchtlingsdeal mit der EU platzen, die türkische Opposition ihren Glauben an Europa verlieren, und die Türkei letztlich noch tiefer in eine Präsidial-Diktatur unter dem autoritären Staatschef Recep Tayyip Erdogan schlittern, ohne dass Europa noch irgendeinen Einfluss hätte, warnten die Kritiker. Sie sind in der EU - noch - in der Mehrheit. Österreich wurde in seiner Forderung nur von den Niederlanden und Bulgarien unterstützt.
"Man muss das in allen Konsequenzen außenpolitisch überdenken"
"Man muss das in allen Konsequenzen außenpolitisch überdenken", warnte Steinmeier am Nachmittag. Eine "rote Linie" wäre die Einführung der Todesstrafe in der Türkei, dann wären die EU-Beitrittsverhandlungen Geschichte, machte Steinmeier klar.
"Helfen wir dem türkischen Volk, wenn wir abbrechen? Ich glaube die Antwort ist nein"
"Helfen wir dem türkischen Volk - und es sind viele Millionen, die auf die Europäische Union setzen -, wenn wir abbrechen? Ich glaube die Antwort ist nein. Haben wir genug Einfluss, wenn es um die Einführung der Todesstrafe geht, wenn wir abbrechen? Ich glaube nein", argumentierte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn.
Auch die Gegner der österreichischen Linie räumen ein, dass die EU derzeit mit der Türkei keine weiteren Kapitel in den Beitrittsverhandlungen eröffnen kann. Sie wollen dies aber nicht in einem Beschluss festschreiben - wohl auch aus Angst darüber, Erdogan könnte auf eine neuerliche Provokation aus Brüssel tatsächlich mit einem Platzen des Flüchtlingsdeals reagieren. Der Streit geht jetzt um eine prinzipielle Position, der sich die EU zu stellen hat.
"Bei den Westbalkanstaaten ist man oft sehr streng. Bei der Türkei sind viele aus meiner Sicht zu großzügig"
"Künstliche Debatte"
Die von Österreich angedrohte Blockade von Schlussfolgerungen zur EU-Erweiterungspolitik hat noch keine direkten Folgen. Von einer "künstlichen Debatte" sprach auch EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn.
"Viele haben lange die Hoffnung gehabt, dass die negativen Entwicklungen dort nur von kurzer Dauer sein werden"
Das Verhältnis Türkei/Europa in der interaktiven Timeline:
Die EU-Außenminister befassen sich bei ihrem informellen Treffen in Brüssel mit der Türkei-Frage. Kurz verlangt unter Berufung auf die Entscheidung des EU-Parlaments im November wegen des massiven Vorgehens Ankaras gegen Regierungskritiker die Beitrittsgespräche einzufrieren.
"Ich erwarte mir, dass die Außenminister sich damit auseinandersetzen", erklärte der ÖVP-Delegationsleiter im Europaparlament, Othmar Karas. Er betonte aber auch die "klare Haltung" des EU-Parlaments für das Einfrieren der Verhandlungen, nicht aber für einen Abbruch. Derzeit würden ohnedies keine Beitrittsgespräche zwischen Ankara und Brüssel stattfinden, konstatierte Karas. Die Forderung des Europaparlaments sei es, dass dieser Stillstand nun "formalisiert" wird.
Der EU-Abgeordnete Eugen Freund von der SPÖ-Delegation begrüßte, dass Kurz in der Türkei-Frage offensichtlich von seiner ursprünglichen Forderung, dem "totalen Abbruch der Gespräche", abgegangen ist und sich "auf den Zug des Europäischen Parlaments" begeben hat. Allerdings wäre es auch "schön", wenn der Außenminister solche "Bemühungen" bei der Flüchtlingsumverteilung innerhalb Europas an den Tag legen würde.
Weniger Begeisterung herrschte dabei unter den freiheitlichen Europaabgeordneten. "Wie viel muss in der Türkei noch geschehen, dass die EU die Beitrittsgespräche nicht nur einfriert, sondern endgültig abbricht", sagte Harald Vilimsky, FPÖ-Delegationsleiter im Europaparlament. Kurz solle das "Säbelrasseln" lassen und "Nägeln mit Köpfen" machen.
Die grüne Delegationsleiterin und Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Ulrike Lunacek, ortet einen "Missbrauch der Resolution vom Europäischen Parlament" durch Kurz. Auch sorgt sich die Grüne-Politikerin, dass das Verhalten von Kurz in der Türkei-Frage die Beitrittsgespräche mit den Westbalkanstaaten blockieren könnte.
Die NEOS-Europaabgeordnete Angelika Mlinar war ebenfalls bis vor kurzem davon ausgegangen, dass Kurz einen Abbruch der Gespräche fordert. "Das Einfreien unterstütze ich, den Abbruch nicht", sagte sie und betonte: "Die Regierung ist nicht gleich die türkische Bevölkerung".
Die Türkei-Frage überschattete den EU-Gipfel am Donnerstag. Vor allem Österreichs Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) kündigte beim Rat am Dienstag neuerlich ein Veto gegen weitere Beitrittsgespräche mit der Türkei an. Weitere Themen der noch 28 Staats- und Regierungschefs betreffen die Migration und die Sicherheit sowie den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit.
Anschließend steht bei einem informellen Treffen der 27 ohne Großbritannien der Brexit auf der Tagesordnung. Dabei wollen die verbliebenen Länder zu einem rascheren beim Austrittsprozess Großbritanniens gedrängt werden, sobald London den Brexit-Knopf gedrückt - also Artikel 50 ausgelöst - hat, hieß es in EU-Ratskreisen am Dienstag. Österreich wird beim EU-Gipfel durch Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) vertreten.
Der vorweihnachtliche und letzte Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs in diesem Jahr scheint damit alles andere als harmonisch zu verlaufen. Die Türkei hat zuletzt ihre Vorwürfe gegenüber der EU verstärkt - vor allem nach dem jüngsten Terroranschlag. Ankara macht indirekt die Europäische Union bzw. manche Staaten verantwortlich, durch nicht klare Abgrenzung von der verbotenen PKK den Terror zu begünstigen, was die EU ihrerseits klar zurückweist. Bereits mehrmals hat die Türkei gedroht, den Flüchtlingsdeal mit der EU praktisch aufzukündigen.
Genau dieser Flüchtlingsdeal steht auch im Migrationsbereich an erster Stelle der Beratungen beim EU-Gipfel. Dabei geht es allerdings nur um eine Bestandsaufnahme über die Umsetzung dieser Vereinbarung. Außerdem werden im Flüchtlingsbereich noch Abkommen mit ausgewählten afrikanischen Staaten, das gemeinsame Europäische Asylsystem und die Anwendung der Prinzipien der Verantwortung und Solidarität behandelt. Ganz allgemein heißt es, dass Lösungen angesichts des Migrationsdrucks gefunden werden sollen.
Bei der Sicherheit debattieren die Staats- und Regierungschefs drei Schwerpunkte. Zunächst die globale Strategie der EU im Bereich von Sicherheit und Verteidigung, dann den Europäischen Aktionsplan für Verteidigung und schließlich die Umsetzung der gemeinsamen EU-NATO-Erklärung von Warschau vom Juli des Jahres.
Eine Zwischenbilanz soll es in den Fragen Wirtschaft, soziale Entwicklung und Jugendbeschäftigung geben. Schließlich stehen im Bereich der Außenbeziehungen noch die Lage in den Niederlanden angesichts des EU-Ukraine-Assoziiierungsabkommens und das Thema Russland einschließlich des Konflikts in Syrien auf der Tagesordnung.
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