Was bekannt ist, ist erschütternd: Es gibt Tausende Tote und mehr als zwei Millionen Vertriebene. Nach massivster Zerstörung sind fast alle der fünf bis sechs Millionen Tigriner auf humanitäre Hilfe angewiesen, berichten Helfer. Häuser, Schulen, Spitäler sind devastiert und geplündert. Die Lebensgrundlage der Menschen, ihre Viehherden, wurden getötet oder verschleppt. Es gibt kaum Telefonverbindungen in die Region. Die meisten Banken sind geschlossen – die Menschen stehen seit Wochen ohne Cash da.
„Die Lage ist viel schlimmer, als wir eigentlich erwartet haben“, sagte Katia Sorin vom Internationalen Roten Kreuz in Addis Abeba, das einen ganz limitierten Zugang zu der Krisenprovinz hat, zu Außenminister Alexander Schallenberg. Dessen erste nicht-europäische Reise führte ihn gestern in das geschundene Land.
„Äthiopien wird von einem Tsunami an Krisen überrollt“, sagte der Chefdiplomat vor österreichischen Journalisten, „Heuschreckenplage, Dürren, aber auch Überschwemmungen und jetzt die Pandemie sowie Tigray.“ Europa – der Besuch sei mit Brüssel abgestimmt – müsse sich dieser Verantwortung stellen. Österreich tue das seit fast 30 Jahren, so lange ist Äthiopien Schwerpunktland der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (die Gesamthilfe lag 2019 bei 10 Mio. Euro).
Was Tigray anbelangt, warnte Schallenberg eindringlich: „Im Land leben mehr als 80 verschiedene Ethnien. Das ist wie bei tektonischen Bruchlinien: Bewegt sich an einem Ort etwas, kann das anderswo ein Erdbeben auslösen.“ Es gelte also, einen „Flächenbrand zu verhindern“. Zumal laut Berichten auch bis zu 70.000 eritreische Soldaten gegen die Tigriner vorgehen sollen.
Auf die befürchtete Ausweitung der Kampfzone wies der rot-weiß-rote Chefdiplomat auch bei seinen Gesprächen mit Vize-Premier und Außenminister Demeke Mekonnen sowie Staatspräsidentin Sahle-Work Zewde hin. Dabei bot er Österreich als Vermittler in dem Konflikt an. Sein äthiopischer Amtskollege erwies sich laut Schallenberg als zugänglich: Gemeinsam soll daran gearbeitet werden, wie vertrauensbildende Maßnahmen aussehen könnten. Etwa, dass Österreich Mediatoren ausbildet.
Zugleich aber zeigte Schallenberg nach eigenen Worten „klare Kante“ in den Unterredungen. Er forderte ungehinderten Zugang von Hilfsorganisationen zu der Krisen-Provinz sowie eine Untersuchung der Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen: „Straffreiheit darf es nicht geben.“
Bisher sprach Abiy freilich von einer rein internen Angelegenheit, die ohnehin (militärisch) gelöst sei. Anders als vor seinem Amtsantritt 2018 gibt er sich jetzt als Hardliner. Vorbei die Zeiten, in denen er mit seiner Öffnungs- und Reformpolitik auch international für Furore sorgte und dafür 2019 sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Allerdings werden Tigriner seit Beginn der Kämpfe selbst in Addis Abeba drangsaliert. Manche haben ihre Jobs im Staatswesen verloren, andere trotz gültigen Reisepasses das Land nicht verlassen dürfen, berichten Insider.
Generell konstatiert der Sprecher der äthiopischen Menschenrechtskommission, Aaron Maasho: „Wir haben eine Menschenrechtskrise.“
Katastrophenfonds
„Ich komme nicht mit leeren Händen“, sagte Schallenberg zu den humanitären Helfern in Äthiopien. So wird das UN-Ernährungsprogramm ebenso ein Million Euro erhalten wie das Internationale Rote Kreuz sowie NGOs. Es gehe um Nothilfe, aber auch darum, Menschen eine langfristige Perspektive zu geben. Deshalb besuchte er in Addis Abeba eine Ausbildungsstätte, in der Jugendliche unter anderem zu Solartechnikern ausgebildet werden. Von Österreich mitfinanziert, wird das Projekt von der Hilfsorganisation Jugend Eine Welt betreut und von Salesianern abgewickelt.
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