Verstehen was passiert ist
Die 25 Jahre alte Frau sitzt an diesem Tag in einem Besprechungsraum des Opferbeauftragten der Stadt, etwas außerhalb von Hanau. Ihr Blick ist fest, wenn sie mit einem spricht. Sie erzählt viel von Solidarität und Zuspruch in der Bevölkerung, gleichzeitig hat sie auch Stimmen vernommen, die eine Rückkehr zur Normalität fordern. Oder meinen, sie sollen zur Ruhe kommen.
Aber wie soll das gehen, wie soll der Schmerz jemals heilen, wenn man nicht einmal weiß, was in der Tatnacht passiert ist? „Es gibt Fragen, die stelle ich mir, wenn ich morgens aufstehe, wenn ich abends ins Bett gehe.“ Ajla Kurtović hat in den letzten Wochen viele Interviews gegeben. Am liebsten würde sie sich zurückziehen, sagt sie. „Aber, offensichtlich bewirkt man nur etwas, wenn man an die Öffentlichkeit geht.“
So räumte der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) ein, dass die Polizei in der Tatnacht unterbesetzt war, sie aufgrund der hohen Anzahl nicht alle Notrufe entgegennehmen konnte. „Kann das im 21. Jahrhundert wirklich sein? Hätte das die anderen Morde verhindern können?“ Es ist nicht die einzige Frage, die sie den Ermittlern gerne stellen würde: „Wie konnte es sein, dass der Täter von einem Tatort zum anderen Tatort fahren konnte und anschließend nach Hause? Warum alles so lange gedauert hat, bis die Polizei kam?“ Die Wache in der Innenstadt ist ein paar hundert Meter von der ersten Bar entfernt, wo der Täter am 19. Februar das Feuer eröffnete. Von hier aus fuhr er weiter nach Kesselstadt.
Hamza Kurtović saß dort mit seinen Freunden in der Arena-Bar. Es lief gerade Champions-League. Der 22-jährige Lagerist ist wie viele hier im Stadtteil aufgewachsen, es ist ihr Zuhause. Menschen unterschiedlicher Herkunft wohnen dort seit Jahrzehnten Tür an Tür. In Wohnungen, Bungalows, Reihenhäusern. Mittelpunkt ist der Kurt-Schumacher-Platz mit einem Lidl, Friseursalon sowie dem Kiosk und jener Bar, die der Täter aufsuchte. Die Räume sind heute leer, Trauernde haben an einer Stelle Kerzen und Blumen niedergelegt, daneben sind die Porträts der Ermordeten zu sehen.
„Es ist ein komisches Gefühl dort zu stehen“, sagt Ajla Kurtović. Sie versucht es zu vermeiden, sofort gehen ihr dann wieder die Fragen durch den Kopf. „Was haben die Menschen, was hat sich mein Bruder in dem Moment gedacht?“ Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass hier so etwas passiert. Sie erinnert sich an eine schöne Kindheit in Kesselstadt, die Spielplätze, das Jugendzentrum. Auch wenn sie Freundinnen besuchte oder am Abend ausging, hatte sie keine Angst. Klar, gab es schon früher in Deutschland rechtsextreme Anschläge, aber das war immer irgendwie weit weg. Am 19. Februar passierte es 500 Meter vom Haus der Eltern entfernt.
Sie lag an diesem Abend im Bett, als sie am Handy Nachrichten bekam: eine Schießerei in der Stadt, ein Helikopter – irgendwas sei wohl passiert, schrieb ihr Vater. Irgendwann ging sie offline. Am frühen Morgen sah sie dann die Nachrichten und Anrufe. Ihre Eltern warteten bereits in einer Turnhalle, wohin sie die Polizei gebracht hatte. Es hieß, ihr Bruder liegt verletzt in einem Krankenhaus, aber sie können nicht zu ihm. Auch nicht, als man ihnen sagte, dass er tot sei. Erst eine Woche später, da war er schon obduziert worden. „Kein Widerspruchsberechtigter bekannt“, mussten sie in einem Bericht lesen. „Als wäre er ohne Angehörige“, sagt die 25-Jährige. Dabei nahm die Polizei zuvor die Daten der Familie auf.
Wie sehr dieser Umgang die Menschen schmerzt, weiß Andreas Jäger. Er ist der Opferbeauftragte der Stadt Hanau und versucht die Angehörigen zu unterstützen. Mal hilft er in kompliziertem Beamtendeutsch formulierte Dokumente zu verstehen, dann bei der Wohnungssuche. „Manches können wir lösen, anderes nicht.“ Dass es bisher keinen runden Tisch mit der örtlichen Polizei gab, hätte mit Corona zu tun, aber auch mit bürokratischen Kommunikationswegen und Fragen wie: Wer moderiert so ein hochemotionales Treffen, wer steht Rede und Antwort?
„Jeder zeigt mit dem Finger auf den anderen“
Für Ajla Kurtović spielt es letztlich keine Rolle. Sie ist es leid, dass sie bei Nachfragen oder Schreiben, egal ob an Polizei oder den hessischen Ministerpräsidenten, immer auf eine andere Zuständigkeit verwiesen wird. „Jeder zeigt mit dem Finger auf den anderen.“ Was ihr und den anderen helfen würde: Eine Ansprechperson, die Verantwortung übernimmt – „wenn wenigstens jemand versuchen würde, uns einige wesentliche Fragen zu beantworten.“ Das würde auch die Trauerverarbeitung voranbringen. „Wir hatten bisher keine Möglichkeit zu trauern. Zum Trauern gehört auch, zu verstehen, was passiert ist.“
Nur die Generalstaatsanwaltschaft und das Bundeskriminalamt hätten sie informiert, freundlich bemüht, verwiesen sie aber auf die laufenden Ermittlungen. Ein unbefriedigendes Gefühl, zumal sie keine Konsequenzen sieht, die eine weitere Tat verhindern könnten, wie ein strengeres Waffengesetz. Oder wie man potenzielle Täter frühzeitig erkennt. Immerhin gab es genug „Warnsignale“. Der Täter war psychisch auffällig, besaß einen Waffenschein, fuhr zum Schießtraining mit ehemaligen Soldaten in die Slowakei und teilte seine Ansichten auf einer Webseite. Ihr Vertrauen in den Rechtsstaat und die Behörden „wird auf eine sehr harte Probe gestellt“.
Genauso wie das Sicherheitsgefühl. Besonders seitdem der Vater des Attentäters nach einem Krankenhausaufenthalt wieder in jenes Haus zurückgekehrt ist, wo er mit Frau und Sohn lebte. In unmittelbarere Nachbarschaft zu den Angehörigen. Eine Polizistin hat Ajla Kurtović daraufhin angerufen und nach langem Herumdrucksen gebeten, sie möge es schonend ihrem Vater beibringen. Und falls er sich rächen wolle, solle sie anrufen - „als würde die Gefahr von uns ausgehen“. In diesem Moment musste sie auflegen, war erst einmal überfordert.
Anzeige gegen den Vater des Täters
Über die Gefährlichkeit des 73 Jahre alten Mannes wurde sie hingegen nicht informiert, musste es im Nachrichtenmagazin Spiegel lesen. So fordert er die Tatwaffen seines Sohnes zurück, die Freigabe dessen Internetseite und das Entfernen der Gedenkstätten. In seiner Welt wären die Ermordeten Täter, sein Sohn das Opfer. Die Rechte seiner Familie und seines Landes würden verletzt, schrieb er in einem Brief an den Generalbundesanwalt und fügt hinzu: „Eine Wiederherstellung wird mehrere Menschenleben einfordern.“
Für die Angehörigen ist das alles kaum zu ertragen. Nicht nur, dass viele von ihnen am Weg zum Einkaufen am Tatort vorbeigehen müssen, sie könnten dem Mann begegnen. So wie zuletzt bei einer Mahnwache, als er in Richtung der Teilnehmer kam und sie als „wilde Fremde“ beschimpfte. Die Polizei musste ihn fernhalten. Es wird wegen Beleidigung gegen ihn ermittelt. Und seit kurzem wegen psychischer Beihilfe zum Mord und Nichtanzeigen von Straftaten. Einige Hinterbliebene haben ihn angezeigt. Es bestehe der Anfangsverdacht, dass der Vater von den geplanten Taten gewusst und seinen Sohn darin bestärkt habe, steht in dem 16 Seiten langen Schreiben, das die Justiz beschäftigen wird. Und vielleicht zur Aufklärung der Tat beiträgt.
Den Schmerz, die Wut und den Frust kann es aber nicht lindern. Was ein wenig hilft: Diese Gefühle zu teilen. Die Angehörigen treffen sich mittlerweile regelmäßig in der Innenstadt. Eine Unterstützergruppe mit dem Namen „Initiative 19. Februar“ hat unmittelbar an einem der Tatorte ein Ladenlokal angemietet. „Say their names“ steht in dicken Buchstaben über dem Eingang. Im Fenster sind Porträts der Ermordeten zu sehen, hinter einem Paravent sind es Menschen auf Sitzkissen, die miteinander reden. Für Alja Kurtović ist es ein wichtiger Ort. Wie überhaupt die Gespräche. Bei allem Zuspruch, Verständnis und psychologischer Hilfe, die sie bekommt, „wirklich verstehen kann einen nur, wer dasselbe erlebt hat“.
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