Ein wesentlicher Grund dafür wurde im „Deutschland-Monitor“ (einer wissenschaftlichen Studie) im Vorjahr herausgearbeitet: Demnach fühlen sich Menschen in den früher so genannten neuen Bundesländern mehr als doppelt so häufig abgehängt wie ihre Landsleute im Westen, das Verhältnis beträgt 19 zu 8 Prozent. Und zugleich haben „Ossis“ viel stärker als „Wessis“ den Eindruck, dass sich die Politik nicht ausreichend für ihre Anliegen und ihre Region einsetzt.
Ein fataler Mix laut Marion Reiser, Politologin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena:
„Wer sich oder seine Region als ,abgehängt’ ansieht, neigt eher zu populistischen Einstellungen und ist weniger zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie.“ Tatsächlich zeigten sich im „Deutschland-Monitor“ gerade einmal drei Prozent der Ostdeutschen "sehr zufrieden" mit der Demokratie (im Westen lag dieser Wert mehr als doppelt so hoch bei sieben Prozent). "Sehr unzufrieden" beziehungsweise "unzufrieden" kreuzten dagegen 56 Prozent der „Ossis“ an (im Westen waren es 39 Prozent).
Inhaltlich sieht der Mainzer Politikwissenschaftler Kai Arzheimer im Gespräch mit dem "Handelsblatt" vor allem drei Gründe für das Erstarken der AfD im Osten: Die Ablehnung der Zuwanderung, des Multikulturalismus und anderer gesellschaftlicher Wandlungsprozesse.
Doch das Fundament des Höhenfluges der Rechtspopulisten ist und bleibt die wirtschaftliche, aber auch gesellschaftliche und demografische Diskrepanz. Fast alle der 500 umsatzstärksten Unternehmen (92 Prozent) befinden sich auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik. Das monatliche Brutto-Medianeinkommen lag 2020 im Westen mit 3.526 Euro um satte 700 Euro über dem im Osten.
Die Folgen: Das Vermögen der „Wessi“-Haushalte ist doppelt so hoch wie das der „Ossis“, und nur zwei Prozent der gesamtdeutschen Erbschaftssteuer werden in Ostdeutschland (ohne Berlin) abgeliefert. Dazu kommt wegen Abwanderung und geringerer Geburtenrate eine massive Schrumpfung und Überalterung der Bevölkerung im Osten: 2030 wird jeder Dritte älter als 64 Jahre sein.
„Von Schrumpfgesellschaften wissen wir, dass sie oft traditionsbewahrende und defensive Haltungen einnehmen“, schreibt der Soziologe Steffen Mau in einem Gastbeitrag für den Spiegel. Dazu komme, dass Ostdeutschland eine „dramatische Elitenschwäche“ aufweise und als „Land der kleinen Leute“ bezeichnet werden könne – die sich nun scharenweise in die vermeintliche Wohlfühlstube der AfD begäben.
Einen Konstruktionsfehler bei der Wiedervereinigung ortet der Wissenschaftler gleich zu Beginn nach dem Mauerfall 1989: „Der Aufbau Ost schien nur als Nachbau West denkbar.“ Der Osten sei so zur „Anpassungsgesellschaft“ geworden, „ohne die Blaupause West je zu erreichen“. Es seien „eigene Strukturen, eigene Mentalitäten, eigene politische Bewusstseinsformen“ geblieben, die sich nun eben im Wahlverhalten zeigten.
Angesichts der innerdeutschen Kluft warnt der Ministerpräsident Thüringens, Bodo Ramelow (Die Linke), eindringlich: „Die emotionale Einheit geht zunehmend krachen.“ Sein Amtskollege in Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst (CDU), schlägt gar ein Austauschprogramm (wie bei Schülern und Studenten) vor, um den Dialog und ein besseres Verständnis füreinander zu fördern. Pointierter Zusatz: „Mancher (Westdeutsche; Anm.) kennt sich auf Mallorca besser aus als in Sachsen oder Thüringen.“
Etablierte Parteien und Politiker blicken jedenfalls mir großer Sorge und Schrecken auf die im Herbst zu schlagenden Wahlen in den östlichen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Überall dürfte der AfD Platz eins nicht zu nehmen sein. In diesem Zusammenhang warnt der Soziologe und Extremismusforscher Matthias Quent vor einer weiteren „Dämonisierung“ der AfD. Eine solche sorge „ganz offensichtlich bei Bürgerinnen und Bürgern eher für Dissonanzen“ oder zumindest dafür, dass die Rechtspopulisten ihr Potenzial „ausmobilisieren“ könnten.
Für den Soziologen Steffen Mau könnten die drei Landtagswahlen in Ostdeutschland einen „Kipppunkt“ darstellen: FDP und Grüne könnten unter die Räder kommen, der SPD eine „Verzwergung“ drohen. Dagegen sieht Mau die AfD im Aufwind, aber auch das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW), für das sich bei den EU-Wahlen im Osten bis zu 16,4 Prozent erwärmen konnten.
Mit den Resten der Linken – „alle drei Parteien gehen in Lücken, die sich entlang von Anerkennungsdefiziten und Deklassierungen geöffnet haben“, so Mau – könnten sich ganz neue Konstellationen ergeben, Ostdeutschland könnte so zum Experimentierraum neuer Koalitionen werden“ – auch, um die AfD von der Macht fernzuhalten.
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