3,5 Jahre Haft für Nawalny: Höchststrafe für Putins Intimfeind
„Ich soll mich vorstellen? Stellen Sie sich doch vor!“ Schon der erste Wortwechsel zwischen Alexej Nawalny und der Richterin verheißt nichts Gutes. Die Frau, die dem Verfahren gegen Putins Intimfeind vorsitzt, ist kurzerhand eingesprungen – der ursprünglich zuständige Richter hatte sein Amt wenige Tage vor Beginn überraschend niedergelegt. Ob freiwillig oder nicht, das weiß hier keiner so genau.
Ihr Urteil entspricht deshalb auch dem, was der Dissident wohl selbst erwartet hat. Er muss für 3,5 Jahre in Haft - im Gefängnis wird er davon 2 Jahre und acht Monate verbringen; die Höchststrafe abzüglich jener Zeit, die er schon im Hausarrest verbracht hat.
Die USA und zahlreiche europäische Staaten, darunter auch Österreich, forderten noch am Dienstagabend Nawalnys sofortige Freilassung. Sie würden sich eng mit ihren Verbündeten abstimmen, „um Russland zur Rechenschaft zu ziehen“, betonte Außenminister Antony Blinken.
Proteste und hunderte Festnahmen nach Nawalny-Urteil
Das Urteil fügt sich in eine Reihe von Details, die das Verfahren gegen den Dissidenten so „seltsam“ gemacht haben, wie er selbst sagt: Nicht nur das eigentliche Urteil aus dem Jahr 2014 ist merkwürdig – er war im Fall „Yves Rocher“ zu dreieinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt worden, weil er die russische Filiale des Kosmetikkonzerns betrogen haben soll. Das dementierte Yves Rocher, auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nannte das Urteil „konstruiert und grundlegend unfair“.
„Aber ich lag im Koma!“
Ähnlich wirkt die aktuelle Anschuldigung. Nawalny habe sich nach seiner Vergiftung mit dem Nervengift Nowitschok nicht an seine Bewährungsauflagen gehalten, so die Behörden. Damals war er in Deutschland behandelt worden, und dort habe er sich nicht bei der Gefängnisverwaltung gemeldet. „Wie hätte ich das machen können? Ich lag ja im Koma!“, entfährt es dem 44-Jährigen. Ebenso kopfschüttelnd quittiert er den Vorwurf, dass er seine deutsche Adresse nicht weitergegeben hätte. Zum einen habe er dorthin ja offizielle Gerichtspost bekommen, zum anderen war der Ort durchaus bekannt: „Der Präsident sagte live im Fernsehen, dass ich nur dank ihm in Deutschland behandelt werden konnte. Wie konnten Sie nicht wissen, wo ich bin? Kennen Sie Putin nicht?“
Putin, der Elefant im Raum
Der russische Präsident ist ohnehin jene Person, um die es hier eigentlich geht; der „Elefant im Raum“, wie Nawalny ihn nennt. Der Hass und die Angst des „Mannes im Bunker“ seien nämlich der einzige Grund für diesen Prozess. „Ich habe ihn beleidigt, indem ich das Attentat überlebt habe. Er wird als Wladimir, der Unterhosen-Giftmörder, in die Geschichte eingehen“, sagt er in Anspielung darauf, dass das Gift in seinen Boxershorts platziert wurde. „Dieser Prozess ist ein Zeichen seiner Schwäche.“
Dem stimmen fast alle Kommentatoren zu. „Putin hat niemals so lächerlich, grotesk und erbärmlich gewirkt wie jetzt“, sagt Sergej Parchomenko, Politologe und Journalist beim unabhängigen Sender Echo Moskau. Dass etwa Außenminister Lawrow die Anwesenheit von ausländischen Diplomaten während des Prozesses „unzulässige Einmischung“ nennt, sei entlarvend.
Putin verliere langsam den Kampf um die Moralhoheit, argumentiert auch Andrej Kolesnikow, Politologe bei Carnegie – die Lage sei ähnlich wie bei Dissident Andrej Sacharow, der maßgeblich zum Zerfall der UdSSR beigetragen hat.
Kampf um Moralhoheit
Sichtbar sei Putins Schwäche gut daran, wie massiv er die Polizei gegen die Protestierenden einsetzen müsse. Schon vor Prozessbeginn wurden mehr als 300 Personen vor dem Gerichtsgebäude verhaftet – darunter auch Passanten, die einfach nur aus dem U-Bahn-Aufgang kamen. Das werde wohl Folgen haben: Viele von ihnen werden bei den nächsten Massenprotesten wohl mitmarschieren – dass die jetzt abebben, daran glaubt niemand. Im Gegenteil: Nach dem Urteil zogen am Dienstagabend Tausende Menschen demonstrierend durch die Straßen, es kam zu Hunderten Festnahmen.
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