Nicht ganz. Dass sich in Russland einiges verschoben hat, seit Nawalny nach seiner Vergiftung aus Deutschland zurückgekehrt ist und publik machte, dass Russlands Präsident wohl Besitzer einer 1,1-Milliarden-Dollar-Villa in Sotschi ist, stimmt: „Nawalnys Rückkehr hat das politische Leben in Russland reaktiviert“, analysiert Nikolai Petrov, Politologe am Chatham House in London. Nach Jahren der Resignation gingen letztes Wochenende Tausende auf die Straßen, gut 40 Prozent davon waren das erste Mal bei einer Demo. Der Staat demonstrierte Härte, auch vor den nächsten Protesten am Sonntag: Nawalnys Haftstrafe wurde bestätigt, seine Frau Julia, sein Bruder Oleg und Dutzende Mitstreiter vorsorglich verhaftet.
Doch es ist nicht Nawalny als Person, die den Kreml so unruhig macht, da sind sich Beobachter einig. Der Dissident ist umstritten, für viele Russen keine Führungsfigur, zumindest noch nicht. Gefährlich ist hingegen das, was die Menschen wirklich auf die Straße treibt: der Umgang des Staates mit ihm. Dass ausgerechnet jener Mann, der Kleptokratie und Korruption der Eliten öffentlich macht, auf unrechtmäßiger Basis weggesperrt wird, regt auf; da fällt schon mal das Wort „Unrechtsstaat“.
Nawalny ist also weniger Leitfigur einer homogenen Bewegung als Katalysator der Wut vieler, die weder alle pro-westlich noch derselben politischen Meinung sind, die aber schon seit Langem unzufrieden sind mit dem verknöcherten System. Das gilt vor allem für die Jungen, denen Perspektive fehlt: Während die Eliten sich bereichern, werden ihre Gehälter seit Jahren weniger; der Durchschnittslohn liegt derzeit bei gerade mal 400 Euro. Das sind knapp acht Prozent weniger als 2013 – und in den teuren Großstädten viel zu wenig, um ein normales Leben zu führen.
Dass der Kreml nicht daran denkt, etwas daran zu ändern, auch während der Corona-Krise kaum Geld in die Hand nahm, um Arbeitslosigkeit und Umsatzausfälle abzufedern, ist eine der Triebfedern. Gepaart mit der von Nawalny offengelegten Verschwendungssucht der Eliten – die überteuerten Klobürsten in Putins Palast wurden nicht umsonst Symbol der Proteste – ist das eine teuflische Mischung für den Kreml. „Die Russen sind zornig wegen sinkender Löhne, Umweltskandalen, lokaler Korruption. Das alles führt dazu, dass die Legitimität des Regimes bröckelt“, so Aleksandr Gabuev, Politologe bei Carnegie Moskau.
Besonders bitter für Putin muss sein, dass er sich einen Teil der Eskalation selbst zuzuschreiben hat. Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass sowohl die missglückte Vergiftung Nawalnys als auch das PR-Desaster um dessen Inhaftierung nach dem Rückflug (mehr als elf Millionen Zuseher sahen die „geheime“ Verhaftung im Livestream) nicht vom Kreml erwünscht waren, sondern dass Silowiki – einflussreiche Geheimdienstler und Militärs – ihr eigenes Spiel spielten. Auch die gewaltsame Niederschlagung der Proteste dürfte auf ihr Konto gehen.
Damit hat der Kreml Nawalny unabsichtlich zum Märtyrer gemacht; ihn noch größer gemacht, als er sich wohl selbst hätte machen können. Das ist eine doppelt schlechte Nachricht für Putin: Selbst wenn viele Russen Nawalny nicht als Alternative zu Putin sehen, so stellt er eine Schwäche in dessen System bloß, die es bisher noch nie in dieser Form gegeben hat. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass Putin die Situation so entgleitet.
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