30 Jahre nach dem Mauerfall: Die dunkle Geschichte holt Europa ein
Man kann das Problem in große Worte fassen, oder stattdessen Zahlen sprechen lassen. Jene, die die Osteuropa-Experten der Open Society Foundation in diesen Tagen veröffentlicht haben, sind ohnehin überdeutlich. 60 Prozent der Slowaken, 58 Prozent der Ungarn oder 56 Prozent der Bulgaren vereint eine gemeinsame Angst - um die Demokratie in ihren Heimatländern.
Man befürchtet eine Rückkehr zu autoritären Strukturen, und kann diese Angst auch ziemlich genau begründen: Der Rechtsstaat brüchig, die Machtverhältnisse aus der Balance, die Korruption überbordend.
Von Tschechien über die Slowakei bis Rumänien: Viele Staaten Osteuropas haben große Roma-Minderheiten. Die sind weiterhin sozial isoliert und gesellschaftlich diskriminiert. Sie leben in Ghettos, ihre Kinder landen in Sonderschulen. Rechte Bewegungen und Parteien verbreiten offen Hasspropaganda gegen Roma. Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Ausschreitungen. Auch antisemitische Vorurteile gehören immer noch zum Alltag und zum Instrumentarium der Politik, auch weil die eigene Geschichte des Antisemitismus, etwa in Polen, bis heute ein Tabu ist.
Es sind nicht nur diese Zahlen, es ist die Grundstimmung im Osten der EU, die Wissenschafter und Intellektuelle alarmiert. Europadämmerung nennt sie der bulgarische Politologe Ivan Krastev, in einer Zwickmühle verortet der französische Philosoph Etienne Balibar die Union: Dazu verurteilt, enger zusammenzurücken, aber unfähig, den eigenen Zerfall aufzuhalten. Der nationale Egoismus habe den europäischen Gedanken unterwandert.
In vielen Staaten Ostmitteleuropas ist der Nationalismus wieder zum Machtinstrument geworden, bedienen sich Regierungen bei uralten und lange tabuisierten Konflikten. Ungarns Premier Viktor Orban beschwört die Idee eines Großungarn in den Grenzen vor dem Ersten Weltkrieg. Polens mächtigster Mann, Jaroslaw Kaczynski, fordert Entschädigungszahlungen von Deutschland für den Zweiten Weltkrieg und befeuert alte Ängste vor Russland.
In Kroatien oder Serbien werden immer noch Kriegsverbrecher als Helden verehrt.
Gegenpole zum Westen
30 Jahre nach dem Mauerfall geht in Europa eine neue Kluft zwischen Ost und West auf. Die sogenannten Visegrad-Staaten, also Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen verstehen sich in vielen politischen Grundsatzfragen als Gegenpole zum liberalen Westen: Geht es um Migration, Meinungsfreiheit oder Gewaltentrennung definieren die Wortführer dieser Staaten, wie Ungarns Viktor Orban oder der Polens mächtiger Mann Jaroslaw Kaczynski inzwischen ihre eigene Position – und die ignoriert demonstrativ Grundwerte liberaler Demokratien.
Die Aushöhlung rechtsstaatlicher Grundlagen, etwa der unabhängigen Justiz, oder der Medienfreiheit, in EU-Staaten wie Ungarn, oder Polen, beschäftigen die EU seit Jahren. Mehrere Verfahren sind eingeleitet worden, bislang ohne durchschlagenden Erfolg. In Rumänien wurden führende Politiker wegen Wahlbetrug verurteilt. Entsprechend niedrig ist laut jüngsten Umfragen das Vertrauen der Bürger in die Demokratie. Mehr als die Hälfte halten sie in Staaten wie Rumänien, oder Ungarn für gefährdet.
In Gespräch mit dem profil erläutert Krastev diesen Trend. 1989, als der Ostblock in sich zusammenfiel, schien es nur eine Richtung in die Zukunft zu geben: Liberale Demokratie und Marktwirtschaft: „Wir hatten das Gefühl auf die Zukunft aufzuspringen und zu wissen, wie sie aussehen wird.“
Jahrzehnte des wirtschaftlichen Aufschwungs, aber auch brutaler Enttäuschungen sollten folgen. Selbst der britische Economist, quasi das Zentralorgan von Liberalismus und Markwirtschaft, zieht in seiner jüngsten Ausgabe eine sehr zwiespältige Bilanz der Wende in Osteuropa: Es habe ebenso große Rückschläge wie Fortschritte gegeben und Osteuropa sei bis heute weit konservativer als der Westen: „Andere Orte, andere Werte“.
Während die urbanen Zentren wie Warschau, Prag oder Bratislava längst zum Westen aufgeschlossen haben, kommen Regionen wie die Ostslowakei oder das polnische Masuren nicht voran und versinken in Armut. Verschärft wird die Situation durch die Preise bei Konsumgütern, die trotz niedriger Löhne längst auf westlichem Niveau sind. Studien über unterschiedliche Qualität von Lebensmitteln von Fischstäbchen bis Nutella zwischen West- und Osteuropa sorgten in Ländern wie Ungarn oder der Slowakei für Skandale und politische Proteste, schienen sie doch zu bestätigen, wovon viele Osteuropäer überzeugt sind: Wir bekommen nur zweitklassige Güter zu überhöhten Preisen.
In ganz Europa mag die Kluft zwischen Großstädten und ländlichem Raum aufgegangen sein. In Osteuropa sind das oft völlig getrennte Welten. Hier wohlhabende, moderne Metropolen, die längst auf Augenhöhe mit dem Westen sind, dort rückschrittliche Regionen, in denen es an allem fehlt: Arbeitsplätze, Infrastruktur, Zukunftshoffnung
Ob Ungarns Premier Viktor Orban, Rumäniens Sozialdemokraten oder die slowakische Regierungspartei SMER, die politischen Machtzentralen sind von einem dichten Netzwerk an Günstlingen umgeben, die mit Großaufträgen bedient werden. Auch der großflächige Missbrauch von EU-Förderungen läuft über diese Verbindungen. Die EU hat Rumänien und Bulgarien wegen der grassierenden Korruption wiederholt gemahnt. In internationalen Korruptions-Indizes rangieren die Osteuropäer auf den hinteren Rängen. Tschechiens Premier Babis macht seit längerem wegen Missbrauch von EU-Fördergeldern Schlagzeilen.
Doch für Krastev ist die wirtschaftliche Ernüchterung nur ein Grund für die bedrohlichen politischen Trends von Polen bis Rumänien. Vielmehr seien diese Staaten jetzt erst auf der Suche nach ihrer eigenen Identität. Das vorgegebene Ziel nach 1989 sei gewesen, „den liberalen Westen zu imitieren“. Doch auch eine perfekte Kopie sei eben nur eine Kopie – und damit immer von Gefühlen der Minderwertigkeit und Abhängigkeit begleitet, und an diese Gefühle würden die Populisten im Osten appellieren.
Während die Regierungen in Ungarn, oder Polen die Angst vor illegalen Einwanderern schüren, ist Osteuropas größtes Problem die Abwanderung. Junge und gut Ausgebildete verlassen zu Hunderttausenden Länder von Polen bis Rumänien. Dort etwa wandern 350.000 Menschen jährlich ab, in Ungarn sind es etwa 100.000. Durchschnittlich haben die Staaten Osteuropas 8 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. In Umfragen gibt jeder zweite junge Bürger an, irgendwann sein Land verlassen zu wollen.
Ein ungarischer Premier zieht 100 Jahre alte Grenzen in Zweifel, in Barcelona gehen nationalistische Politiker für einen diffusen Traum von einer Nation ins Gefängnis. In Großbritannien inszenieren EU-Gegner den Brexit als Kampf gegen die deutsche Vorherrschaft über Europa. 30 Jahre nach Fall des Eisernen Vorhangs geht Europa durch die tiefste Krise der Nachkriegszeit.
KURIER-Außenpolitik-Reporter Konrad Kramar hat die Brennpunkte dieser Krise besucht. Er zeigt zwischen populistischem Getöse und antieuropäischer Hetze, wie tief in die Geschichte die heute wieder drohende Spaltung Europas zurückführt.
Konrad Kramar: „Neue Grenzen, offene Rechnungen“, Residenz
Kommentare