30 Jahre nach dem Mauerfall: Die dunkle Geschichte holt Europa ein

30 Jahre nach dem Mauerfall: Die dunkle Geschichte holt Europa ein
In Europa gehen Grenzen zu – und tiefe Gräben auf: Die EU spaltet sich in Ost und West und entkommt ihrer Geschichte nicht.

Man kann das Problem in große Worte fassen, oder stattdessen Zahlen sprechen lassen. Jene, die die Osteuropa-Experten der Open Society Foundation in diesen Tagen veröffentlicht haben, sind ohnehin überdeutlich. 60 Prozent der Slowaken, 58 Prozent der Ungarn oder 56 Prozent der Bulgaren vereint eine gemeinsame Angst - um die Demokratie in ihren Heimatländern.

Man befürchtet eine Rückkehr zu autoritären Strukturen, und kann diese Angst auch ziemlich genau begründen: Der Rechtsstaat brüchig, die Machtverhältnisse aus der Balance, die Korruption überbordend.

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Roma in Rumänien

Es sind nicht nur diese Zahlen, es ist die Grundstimmung im Osten der EU, die Wissenschafter und Intellektuelle alarmiert. Europadämmerung nennt sie der bulgarische Politologe Ivan Krastev, in einer Zwickmühle verortet der französische Philosoph Etienne Balibar die Union: Dazu verurteilt, enger zusammenzurücken, aber unfähig, den eigenen Zerfall aufzuhalten. Der nationale Egoismus habe den europäischen Gedanken unterwandert.

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Kroaten-Treffen mit Symbolen des faschistischen Ustascha-Regimes

 

Gegenpole zum Westen

30 Jahre nach dem Mauerfall geht in Europa eine neue Kluft zwischen Ost und West auf. Die sogenannten Visegrad-Staaten, also Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen verstehen sich in vielen politischen Grundsatzfragen als Gegenpole zum liberalen Westen: Geht es um Migration, Meinungsfreiheit oder Gewaltentrennung definieren die Wortführer dieser Staaten, wie Ungarns Viktor Orban oder der Polens mächtiger Mann Jaroslaw Kaczynski inzwischen ihre eigene Position – und die ignoriert demonstrativ Grundwerte liberaler Demokratien.

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Orban an der befestigten Grenze Ungarns zu Serbien

In Gespräch mit dem profil erläutert Krastev diesen Trend. 1989, als der Ostblock in sich zusammenfiel, schien es nur eine Richtung in die Zukunft zu geben: Liberale Demokratie und Marktwirtschaft: „Wir hatten das Gefühl auf die Zukunft aufzuspringen und zu wissen, wie sie aussehen wird.“

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Jahrzehnte des wirtschaftlichen Aufschwungs, aber auch brutaler Enttäuschungen sollten folgen. Selbst der britische Economist, quasi das Zentralorgan von Liberalismus und Markwirtschaft, zieht in seiner jüngsten Ausgabe eine sehr zwiespältige Bilanz der Wende in Osteuropa: Es habe ebenso große Rückschläge wie Fortschritte gegeben und Osteuropa sei bis heute weit konservativer als der Westen: „Andere Orte, andere Werte“.

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Armut in Rumänischen Dörfern

 

In ganz Europa mag die Kluft zwischen Großstädten und ländlichem Raum aufgegangen sein. In Osteuropa sind das oft völlig getrennte Welten. Hier wohlhabende, moderne Metropolen, die längst auf Augenhöhe mit dem Westen sind, dort rückschrittliche Regionen, in denen es an allem fehlt: Arbeitsplätze, Infrastruktur, Zukunftshoffnung

Doch für Krastev ist die wirtschaftliche Ernüchterung nur ein Grund für die bedrohlichen politischen Trends von Polen bis Rumänien. Vielmehr seien diese Staaten jetzt erst auf der Suche nach ihrer eigenen Identität. Das vorgegebene Ziel nach 1989 sei gewesen, „den liberalen Westen zu imitieren“. Doch auch eine perfekte Kopie sei eben nur eine Kopie – und damit immer von Gefühlen der Minderwertigkeit und Abhängigkeit begleitet, und an diese Gefühle würden die Populisten im Osten appellieren.

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