100 Tage Präsident Biden: Linker Kurs, Wellengang voraus
Den richtigen Zeitpunkt zu finden, sagt Joe Biden, sei alles in der Politik. Pünktlich zum heutigen (Donnerstag) 100-Tage-Jubiläum glaubt Amerikas Präsident, dem man fälschlicherweise das Etikett des zaudernden Verlegenheitskandidaten angeklebt hat, mit zwei weithin populären Ideen den Nerv der Zeit zu treffen.
Hunderttausenden Arbeitnehmern, die im Auftrag der Zentralregierung tätig sind, soll der Mindestlohn auf 15 Dollar die Stunde nahezu verdoppelt werden. Gleichzeitig müssen reiche Bürger für Aktiengewinne voraussichtlich doppelt so hohe Steuern entrichten. Damit, so deutete Biden am Mittwochabend in seiner ersten Rede zur Lage der Nation vor dem Kongress an, sollen unter anderem staatliche Kindertagesstätten, Elternzeit-Modelle und Lohnfortzahlungsgarantien im Pflege- oder Krankheitsfall teilweise refinanziert werden.
Umfragen für Biden
Die seit Donalds Trumps politischem Ableben verwaist wirkenden Republikaner lehnen die gelenkte Daseinsvorsorge, die einer „Sozialdemokratisierung light“ gleichkommt, ab. Aber Umfragen belegen, dass auch konservative Milieus für Bidens Reparatur-Anleitung empfänglich sind. 58 Prozent waren laut einer Umfrage des Pew-Instituts im April mit Bidens Arbeit in der Startphase einverstanden.
Fast 20 Prozentpunkte mehr, als Vorgänger Donald Trump nach 100 Tagen hatte. Aber weniger als bei George W. Bush (63 Prozent) und Barack Obama (69); Ausdruck eines unverändert stark polarisierten Landes.
Als erste große Fleißkarte kann Biden den Stand bei der Covid-Bekämpfung verbuchen. Dank massiver Intervention seiner Regierung sind im 331 Millionen-Volk bereits mehr als die Hälfte der Erwachsenen und 80 Prozent der über 65-Jährigen mindestens ein Mal geimpft. Statt versprochenen 100 Millionen Dosen in den ersten 100 Tagen landeten bis heute knapp 220 Millionen in Oberarmen zwischen Mississippi und Maine.
Die Zahl der Toten, einst vierstellig, ist drastisch gesunken.
Biden ist anders als die Karikatur vom „Sleepy Joe“, den Trump aus ihm machen wollte: agil, hellwach. Und so progressiv, dass sich Bernie Sanders und Elizabeth Warren, einst seine linken Gegenspieler im parteiinternen Wahlkampf, verwundert die Augen reiben.
Biden vertritt die Auffassung, dass sich in dieser Dekade weisen wird, ob westliche Demokratien im Vergleich zu autoritären Staatsmodellen wie in China noch „für ihre Leute sorgen können“.
Aus diesem Grund sagt er, es sei „riskanter“, in der monumentalen Corona-Krise „zu wenig auszugeben anstatt zu viel“. Der Staat müsse sein Hochleistungsvermögen zeigen. Darum der knapp 2.000 Milliarden Dollar schwere „Rettungsplan“ für Firmen, Familien und Kommunen. Zwei von drei Amerikanern billigen das Hilfspaket. Darum die Initiative, die marode öffentliche Infrastruktur wie Straßen, Brücken, Häfen, aber auch die lückenhaften Sozialsysteme bei Wahrung des Klimaschutzes zu sanieren.
Bewährungsprobe
Bidens „Jobs-Plan“ im Volumen von weiteren 2.000 Milliarden Dollar wackelt. Die Zustimmung im Kongress ist ungewiss. Aber Biden drückt, den Zeitgeist im Rücken, aufs Tempo. Auch auf internationaler Bühne. Der Präsident hat die Klimawandel-Ignoranz Trumps ad acta gelegt und die USA ins Pariser Abkommen zurückgeführt.
Obendrein mit einer neuen Leuchtturm-Devise: Halbierung des -Ausstoßes bis 2030. Dem längsten Kriegseinsatz der USA in Afghanistan ist ein Enddatum gesetzt. Mit dem Iran bandelt man an einem reformierten Atom-Abkommen.
Wie lange Joe Biden so viel Aufwind haben wird, werden die nächsten 100 Tage zeigen. Die gute Corona-Impf-Bilanz kann nicht verschleiern, dass sich 20 Prozent der Bevölkerung nicht impfen lassen wollen. Bei hauchdünnen Mehrheiten im Kongress ist etwa an eine Reform der Waffengesetze kaum zu denken. Auch beim Akut-Problemfall Südgrenze hat Biden noch kein Mittel gefunden, den Zustrom von Flüchtlingen aus Latein-Amerika zu stoppen.
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