100 Tage Krieg: "Sind bereit für einen Langzeitkrieg"
Seit nunmehr 100 Tagen tobt der von Russland entfesselte Angriffskrieg. Am 24. Februar hat der russische Präsident Wladimir Putin den Einmarsch in das Nachbarland befohlen. Stand erst die schnelle Eroberung der gesamten Ukraine auf dem russischen Plan, zerbrach dieser am Widerstand der ukrainischen Kämpfer. So konzentriert sich Russland aktuell auf den Osten des Landes und die komplette Einnahme der Gebiete Luhansk und Donezk.
Gab es in den ersten Kriegswochen noch Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew, liegen diese spätestens seit den Gräueltaten an der Zivilbevölkerung in Butscha und anderen Orten bei Kiew auf Eis. Selenskij will erst wieder verhandeln, wenn Russland sich auf die Grenzen vom 23. Februar zurückzieht.
Aktuell wehren sich ukrainische Truppen weiter gegen den Verlust der Großstadt Sjewjerodonezk im Osten, in der russische Truppen mit ihrer überlegenen Feuerkraft vorrücken. Nach britischer Einschätzung übernahmen Russland mittlerweile den Großteil der Stadt.
Der ukrainische Verwaltungschef von Luhansk, Serhij Hajdaj, hingegen berichtete von erfolgreichen Kommandoaktionen der Verteidiger. Präsidentenberater Olexij Arestowytsch sprach gar davon, die ukrainische Armee habe die Russen in Sjewjerodonezk in eine Falle gelockt.
Sjewjerodonezk gilt als letzte ukrainische Hochburg in der Region Luhansk. Die Stadt solle möglichst nicht aufgegeben werden, sagte Vize-Generalstabschef Olexij Hromow in Kiew: "Die Lage ist schwierig, aber sie ist besser als gestern. Und sie ist unter Kontrolle." Es gebe sehr blutige Straßenkämpfe in der Stadt, so Hromow.
Täglich 100 Tote
Präsident Wolodymyr Selenskij zog bei mehreren Auftritten eine Art Bilanz des Krieges seit dem 24. Februar.
Die russischen Truppen seien in 3.620 Ortschaften der Ukraine einmarschiert, 1.017 davon seien wieder befreit worden, sagte Selenskij. „Weitere 2.603 werden noch befreit werden.“
Zwölf Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer seien im Land auf der Flucht; fünf Millionen im Ausland. Russland habe über 30.000 Soldaten verloren, behauptete Selenskij. Auch westliche Experten vermuten zwar schwere russische Verluste, halten die Kiewer Zahlen aber für zu hoch.
Bei den Kämpfen im Osten würden täglich bis zu 100 ukrainische Soldaten getötet, sagte er in einer Videoschaltung bei einer Sicherheitskonferenz in der slowakischen Hauptstadt Bratislava. „Und ein paar Hundert Menschen - 450, 500 Menschen - werden verletzt jeden Tag.“
Ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebietes sei derzeit von Russland besetzt, sagte er in einer Schaltung in das luxemburgische Parlament.
"Bereit für Langzeitkrieg"
Auch Hromow und die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maljar zogen Bilanz. "Unser Widerstand ist nach all den Monaten ungebrochen. Der Feind hat seine selbst gesteckten Ziele nicht erreicht", sagte Maljar.
"Wir sind bereit für einen Langzeitkrieg. Wir haben uns auf einen langen Krieg eingestellt." Maljar lobte, dass die „Dynamik der Waffenlieferungen“ aus dem Westen an Fahrt aufnehme.
Aus Sicherheitsgründen machte sie keine Angaben zum Zeitpunkt und Ort der Lieferungen. Die Ukraine will mit den schweren Waffen unter anderem aus den USA und aus Deutschland den Vormarsch der russischen Truppen aufhalten und besetzte Städte befreien.
Selenskij dankte für ausländische Waffenlieferungen
Präsident Selenskij hat den USA und anderen Verbündeten für die jüngsten Zusagen zur Lieferung moderner Waffen gedankt. In seiner Videoansprache erwähnte er vor allem die Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars aus den USA. "Diese Waffen werden wirklich dazu beitragen, das Leben unseres Volkes zu retten und unser Land zu schützen", sagte Selenskij in Kiew. Er dankte auch Schweden, das unter anderem Schiffsabwehr-Raketen zusagte.
Eine Hilfe sei auch das neue sechste Sanktionspaket der EU gegen Russland mit einem weitgehenden Öl-Embargo. "Die Welt verzichtet endlich auf russisches Öl", sagte der ukrainische Präsident. Für die Ukraine ist am Freitag der 100. Tag des von Russland aufgezwungenen Krieges.
Bei den Himars-Raketenwerfern hatte die Ukraine nach US-Angaben zugesagt, mit den Waffen nicht russisches Gebiet anzugreifen. Die Ukraine werde die Reichweite des Systems selbst regulieren, sagte die neue US-Botschafterin Bridget Brink am Donnerstag in Kiew. Der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew drohte nach Moskauer Presseberichten damit, ukrainische Befehlszentren anzugreifen, falls Russland mit diesen Raketen beschossen werden sollte.
Russland rückt nach Süden vor
Die russischen Truppen im Osten des Landes versuchen nach Angaben des Gouverneurs der Region Donezk, Pawlo Kyrylenko, nun weiter nach Süden vorzurücken.
Sie wollten zu den vom ukrainischen Militär kontrollierten Städten Kramatorsk und Slowiansk vordringen - das seien die Schlüsselziele im Norden der Region Donezk.
Die Fronten bei den Städten Lyman und Isjum seien die Hauptrichtungen. Kramatorsk ist seit 2014 de facto die Hauptstadt der Region Donezk, nachdem die gleichnamige Stadt von den von Russland unterstützten Separatisten eingenommen wurde.
In Charkiw wurde laut Behörden eine Frau getötet und eine weitere Person verletzt. Zuvor war seitens der Ukraine von mindestens vier getöteten Zivilisten und zehn Verletzten im Osten und Nordosten von Sjewjerodonezk die Rede gewesen.
Die russischen Streitkräfte schossen zudem nach eigenen Angaben einen ukrainischen Kampfjet vom Typ Su-25 in der Schwarzmeer-Region Mykolajiw ab. Kathpress berichtete am Donnerstag, dass bei Gefechten in Swjatohirsk in einem orthodoxen Kloster mindestens drei Menschen ums Leben kamen.
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