Kommentar zum Ballett-Skandal: Im Spitzenbereich wird weggeschaut

Kommentar zum Ballett-Skandal: Im Spitzenbereich wird weggeschaut
Missstände in der Spitzenkunstausbildung werden nicht länger akzeptiert. Das ist ein Fortschritt - aber erst der Anfang.
Georg Leyrer

Georg Leyrer

Man muss hier etwas festhalten, obwohl es am Kern vorbeigeht: Nein, es darf niemanden überraschen – Eltern nicht, die Öffentlichkeit nicht, die Branche schon gar nicht –, dass beim irgendwo zwischen Spitzensport und  höfischer Ästhetik liegenden Ballett auch brutale, empörende Ausbildungsmaßnahmen und Bewertungskriterien benutzt wurden. 

Kinder, die in eine derartige Ausbildung mit Blick auf die Weltspitze geschickt werden, werden einem System übergeben, das im Prinzip keine Toleranz kennt, weder bezüglich der Bedürfnisse der Heranwachsenden noch von denen, die solche Karrieren vorantreiben können, noch vom Publikum her.

Der Ballettskandal beleuchtet ein offenes Geheimnis

Umso wichtiger ist, dass dieses offene Geheimnis nun durch den "Falter" ans Licht der Öffentlichkeit gebracht wurde. Denn es hat sich zuletzt etwas Wesentliches geändert: Es ist die Selbstverständlichkeit verschwunden, mit der das alles auch medial durchgewunken wurde.

Im Ballett, zuvor schon in der Klassik, im Film, in den Medien, in der Literatur: Es werden Grenzen neu verhandelt, was Künstler, was junge Menschen mit sich machen lassen (müssen).

Das Besondere im aktuellen Fall: Man müsste schon darauf vertrauen können, dass eine Lehrerin, die den UdSSR-Drill in der Gegenwart weiterbetreibt, nicht wiederholt auf Teenager losgelassen wird. Dass die Problematik des Selbstbildes junger Mädchen erkannt wird. 

Aber darüber hinaus geht es auch bei den nun aufgebrachten Missständen im Ballettbereich um Machtmissbrauch; verschärft dadurch, dass es um Kinder und Jugendliche geht.

Das Problem aber gibt es in jeder spitz auf wenige Entscheidungsträger zulaufender Branche: Überall dort, wo eine Karriere an einzelnen Köpfen – einer Ausbildnerin, einem Festspielchef, einem Bühnendirektor, einem Produzenten – hängt, bekommen diese eine unverhältnismäßige Macht über ein Leben.

Und, wie man sieht: Diese Macht wird allzu oft ausgenützt. In der Kultur, im Spitzensport, in der Wissenschaft. Und auch sonst.

Zu lange weggeschaut, aber zumindest wird jetzt reagiert

Die Staatsopernleitung hat, das gesteht auch der Direktor ein, viel zu lange zugeschaut. Das war bei einem anderen Fall im Umfeld der Staatsoper zuletzt sogar noch extremer. Aber jetzt, auf medialen Druck, reagiert sie zumindest. Das ist in anderen Bereichen keineswegs der Fall.

Die Kultur ist gefangen in – und in Teilen auch  immer noch überzeugt von – absurden, längst überholten Management-Ideen, die es so vielleicht sonst nur noch im Silicon Valley gibt: An der Spitze ein vergöttertes Genie,  darunter Abhängige, die zum Erfolg geschunden werden. Das gibt es an allzu vielen Bühnen, bei allzu vielen Filmdrehs immer noch. Dazu nicken immer noch viele im Publikum und unter den Geldgebern bedächtig.

So konnten zu viele unwichtige Kultur-Despoten unter Applaus der Branche und des Publikums ihre kleinen Reiche aufbauen, so gab sich nun das System Ballettakademie und die Führungsspitze zu lange zu elastisch.   

Schluss damit! 

Das alles müsste aber auch der Beginn einer größeren Selbstbetrachtung sein. Welchen Preis sind wir bereit, für Kultur zu akzeptieren? Das Spitzensegment ist ein Grenzbereich, egal, wie man es dreht und wendet. Auch das Publikum darf sich die Frage stellen, wie extrem der Anspruch, dem junge Menschen hierfür ausgesetzt werden,  in Zukunft sein darf  – und wo die Grenze überschritten ist.

Kommentare