EU-Gipfel: Die neue Macht der Kleinen
Vergessen wir einmal die billigen Zuschreibungen, wer aus den Marathonverhandlungen des EU-Gipfels als Sieger und wer als Verlierer hervorgeht. Schließlich geht es um etwas anderes: Um das größte Finanzpaket, das in der EU je geschnürt wurde. Mehr noch: Um eine finanzielle Waffe gegen das Coronavirus, das Europas Wirtschaft verletzte und auf Jahre hinaus leiden lassen könnte. Und nicht zuletzt geht es um die Fragen: Sind wir in der EU eine Gemeinschaft? Schaffen wir es, trotz unserer jeweiligen nationalen Interessen uns so weit zusammenzuraufen, dass wir handeln können?
Die gute Nachricht: Der Wille zu einem „Ja“ war bei allen EU-Staats- und Regierungschefs von Anfang an da. Denn alle wissen: Finden wir jetzt keine mächtige Antwort auf die Corona-Krise, fliegt uns die EU um die Ohren. Doch die mühsamen Verhandlungen über vier Tage hinweg zeigten auch: Eigene Schmerzgrenzen müssen überschritten und Tabus gebrochen werden, um einen gemeinsamen Nenner zu finden. Ungarns Premier Viktor Orbán wird sich gefallen lassen müssen, dass man ihm bei der Rechtsstaatlichkeit auf die Finger klopft.
Und die „sparsamen Regierungen“ müssen auch von ihren teils überzogenen Maximalforderungen ablassen. Wobei die „Sparsamen“ – andere sagen die „Geizigen“ – zugegebenermaßen am meisten gefordert haben und am meisten bekommen werden: Höhere Rabatte, weitgehend gleichbleibende Zahlungen in den EU-Haushalt. Vor allem haben sie die Summe der nicht rückzahlbaren Zuschüsse von 500 Milliarden Euro auf voraussichtlich 390 Mrd. heruntergedrückt. Ist das ein Triumph für die Frugalen, der die Empfängerländer im Süden Europas frustriert zurücklässt?
Man sollte nur nicht vergessen: Vor einigen Wochen noch hatten Kanzler Sebastian Kurz und der eigentliche Antreiber der „Sparsamen“, der niederländische Premier Mark Rutte, noch getönt: Es dürfe im Wiederaufbaufonds überhaupt keine Zuschüsse – also Geldgeschenke – geben, sondern nur Kredite. Von 0 auf 390 Milliarden – das ist auch ein Kompromiss.
Was aber jetzt schon klar ist: Die Kräfteverhältnisse innerhalb der EU haben sich verschoben. Eine geschlossene Gruppe kleiner Staaten hat den deutsch-französischen Motor gebremst. Die zuletzt „bescheidenen fünf“ (Österreich, Niederlande, Schweden, Dänemark und Finnland) haben ihre Macht entdeckt, wenn sie sich zusammentun. Seien es nun die Kleinen oder die Frugalen oder die Visegrad-4-Staaten – was das Innenleben der Europäischen Union angeht, weht also spätestens seit diesem historischen EU-Gipfel ein neuer Wind. Ob das mehr Demokratie bringt oder mehr Mühe, in der EU auf einen Nenner zu kommen, wird sich weisen. Wichtig ist dabei: Das Ziel im Auge behalten – das große Ganze, die EU zusammenhalten.
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