Ali Mahlodji: "Europas größtes Problem ist Wohlstandsverwahrlosung auf höchstem Niveau"
"Wie? Gar nichts?!" Ali Mahlodji traut seinen Ohren nicht. Die Mitarbeiter des Haus Amadou haben ihn soeben über die prekäre Lage der Menschen, die hier Zuflucht gefunden haben, aufgeklärt. Das in der Nähe vom Westbahnhof gelegene Notquartier ist nämlich das letzte Auffangnetz für diejenigen, die in Österreich scheinbar keine Zukunft mehr haben. In dieser Caritas-Einrichtung dürfen Asylwerber*innen, die aufgrund eines negativen Asylbescheides keinen Anspruch auf die Grundversorgung haben, wohnen.
Für Ali Mahlodji ist die missliche Lage der Kinder, denen er heute gegenüber sitzt, durchaus bekannt. Der Unternehmer selbst flüchtete mit seinen Eltern von den Kriegswirren in seinem Heimatland Iran. Drei Jahre war Mahlodji damals, so alt wie seine Tochter heute. Etwas älter sind die vier Buben und das Mädchen, denen er im Spielraum des Hauses Amadou neugierig lauscht. An der Seite der Kids, die hier mit ihren Familien wohnen, sitzen auch zwei junge Frauen, die in ihrem Leben eine besondere Rolle einnehmen.
Donia und Leena sind zwei der Lern- bzw. Sportbuddys. Elf gibt es davon im Haus Amadou, für ebenso viele Kinder. Möglich wurde diese Sonderbetreuung durch das 2010 von der Caritas Wien, der WU Wien und REWE Group/BILLA gegründete Projekt "Lernen macht Schule", von dem 250 Kids in 19 Einrichtungen profitieren. "Wir kommen einmal pro Woche hierher und unternehmen etwas mit den Kindern. Am coolsten ist es, wenn wir Eis essen oder in den Zoo gehen, oder uns bei Uno matchen. Bei Hausaufgaben haben wir weniger Spaß", gesteht Leena schmunzelnd. "Ich finde es so toll, dass man dem Kind nicht nur Nachhilfe geben, sondern mit ihm auch etwas anderes unternehmen kann", sagt Donia, die ebenso wie Leena an der WU studiert.
Wie wichtig diese Unterstützung ist, weiß Ali Mahlodji allzu gut. "Die Anfangszeit in Österreich war für mich und meine Familie nicht so einfach. Ich habe für mich selber herausfinden müssen, welche Dinge ich eigentlich in meinem Leben machen möchte. Jetzt versuche ich Kindern helfen, die ab und zu einfach nicht wissen, welche Zukunft sie haben wollen", erzählt der 41-Jährige. Das Erstaunliche: Die Kids - im Alter zwischen 10 und 16 - hören ihm zu. Nicht selbstverständlich, denn die Aufmerksamkeitsspanne in diesem Alter ist bekanntlich nicht so lang. Aber Ali Mahlodji ist eben ein begnadeter Redner, der längst internationale Bekanntheit erlangt und zahlreiche Menschen inspiriert hat. Mit dem KURIER sprach er über Krisen und Lösungsansätze.
KURIER: Corona, Ukraine, Inflation ... Hört man sich die Nachrichten heutzutage an ...
Ali Mahlodji: ... und denkt, die Welt geht unter.
Wo holt man in Zeiten wie diesen die Motivation her?
Es hört sich jetzt komisch an, aber die letzten 70 Jahre haben wir uns angelogen. Vor 70 Jahren gab es die Nachkriegszeit. Da hat die Generation der Urgroßeltern nichts gehabt. Damals war Österreich, Europa, kein schöner Ort. Da gab es keine vollen Supermarktregale, da haben die Menschen ums Überleben kämpfen müssen, um Europa neu aufzubauen. Das, was wir heute haben, dieser Wohlstand, den wir haben, haben sie damals aufgebaut. Und wenn du ganz oft mit älteren Menschen sprichst, die die Nachkriegszeit erlebt haben, dann wirst du ein bisschen dankbarer und demütiger.
Inwiefern?
Wäre Corona vor 50 Jahren gewesen, wäre das eine Katastrophe gewesen. Da hätten wir keine Handys, um uns anzurufen. Wir hätten zu Hause sitzen müssen. Wir hätten keine Supermarktregale gehabt, die voll sind. Heute ist das einzige Problem bei Corona, ob man genug Klopapier hat. Dabei hat die Menschheitsgeschichte schon immer bewiesen: Egal was Schlimmes passiert ist, wenn man sich darauf besinnt, was Zusammenhalt ist, hat man alles geschafft. Was auch zu Beginn der Pandemie, aber auch des Ukraine-Krieges passierte, ist, dass alle zusammengehalten haben. Solidarität auf allen Ebenen. Das heißt, immer wenn Gefahr kommt in unsere Welt, dann merken wir, was den Menschen ausmacht.
Aber nur dann?
Wenn es uns dann ein bisschen besser geht, beginnen wir darüber nachzudenken, wie schlimm die Welt ist. So fragen mich manche Menschen: "Ali, wie kannst du eine Tochter in diese Welt setzen?" Dann frage ich zurück: "Warum nicht? Meine Tochter kommt in eine Welt hinein, die immer voller Herausforderungen war". Wer in den letzten 60, 70 Jahren geboren worden ist, hat ein Bild von der Welt bekommen, das nicht real ist. Das war nur geborgt auf Zeit.
Sie machen sich also keine Sorgen um die Zukunft?
Überhaupt nicht. Das Wichtige ist nur, dass wir uns in der Zukunftsdebatte nicht verlieren dürfen. Denn: Zukunft existiert noch nicht. Es war noch niemand in der Zukunft, der gesagt hat, wie es wird. Bestes Beispiel ist die Corona-Pandemie. Im ersten Lockdown haben alle Experten im Fernsehen gesagt, die Impfstoff-Herstellung würde vier bis fünf Jahre dauern. Woran keiner gedacht hat, ist, dass die Wissenschaft zum ersten Mal global zusammenarbeitet. Das Ergebnis: Innerhalb eines Jahres war der Impfstoff da. Die Menschheit ist immer besser als ihr Ruf.
Was ist aus Ihrer Sicht das größte Problem, das wir haben?
Der Klimawandel. Der wird zu Flüchtlingsbewegungen führen, er wird zu geopolitischen Veränderungen führen, er wird zu Auseinandersetzungen führen. Managen wir die Klimakrise nicht, werden uns alle anderen Symptome wirklich Probleme bereiten. Die Wahrheit ist: Wir müssen lernen, uns zusammenzureißen und uns ein paar Fragen stellen. Wie etwa: "Was kann ich in meiner Familie machen?", "Was kann ich in meinem Umkreis tun?", "Verliere ich mich in der Angst der Medien oder Experten oder höre ich zu und versuche mir auch ein Bild zu machen und gehe vielleicht auch selber als Vorbild aus der Sache heraus?". Wir müssen wieder damit anfangen, mit positivem Beispiel voranzugehen und nicht alles schlecht reden.
Sind wir hier, im Westen Europas, zu verwöhnt?
Ja, ganz klar. Das ist eine Katastrophe. Ich habe im ersten Lockdown vierköpfige Familien erlebt, die erzählt haben, es sei alles so schlimm, sie hielten es nicht aus, aufeinander zu sitzen. Dann sprach ich mit Freunden, die den Jugoslawien-Krieg erlebt haben. Sie sagten mir: "Ali, wir haben uns wochenlang irgendwo in einem Keller versteckt". Also, die haben bei dieser Lockdown-Thematik nur gelacht. Ja, wir sind eine verwöhnte Generation. Jeder, der den Krieg erlebt hat; jeder, der geflohen ist; jeder, der eine körperliche oder geistige Behinderung hat bzw. jeder, der zu einer Minderheit gehört, kommt mit den Krisen dieser Welt viel besser zurecht. Diese Menschen haben vor der Krise erlebt, was es bedeutet, zehn Mal mehr geben zu müssen als alle anderen.
Wir haben offenbar lange Zeit Sachen übersehen ...
Ja, zum Beispiel, dass es in Österreich, einem der reichsten Länder der Welt, Menschen gibt, denen es nicht so gut geht. Flüchtlinge, Kinder, Familien unter der Armutsgrenze, österreichische Kinder, die unter der Armutsgrenze gelebt haben, die gab es auch vor Corona. Und die Bildungsprobleme gab es vorher auch schon. Und die Probleme in der Pflege davor schon. Nur es ging uns zu gut. Wozu uns darum kümmern, solange es keinen Engpass gab? Das ist ja das Problem, das wir in Europa haben: eine Wohlstandsverwahrlosung auf höchstem Niveau. Alle glauben, dass der Staat dafür zuständig ist, dass wir ein gutes Leben haben und die Leute deshalb die Ärmel nicht hochkrempeln.
Woran fehlt es der Integrationspolitik hierzulande?
Wir haben keine Vision für ein kulturelles Zusammenleben. Es fehlt ein Bild davon, wie wir leben wollen. Hätten wir dieses Bild, könnten wir vielleicht besser argumentieren, warum wir nicht alle reinlassen, weil wir vielleicht bei anderen Dingen Probleme haben? Kann schon sein. Aber aktuell ist es so, dass die Flüchtlinge zu Spielbällen gemacht werden. Als die ganzen Flüchtlingsbewegungen 2015 gekommen sind, hat man in der Politik so getan, als wäre man überrascht gewesen. Die Wahrheit ist, dass die OSZE und andere Beobachter das schon fünf Jahre davor prognostiziert hatten.
Was steht uns denn noch bevor?
Durch den Klimawandel, die Verschiebung der Erdachse und der Zonen, in denen wir leben, werden wir zum Beispiel in Afrika nicht mehr vor Ort Gebiete finden können, in denen man Flüchtlinge deponieren kann. Wegen der Hitze wirst du dort nicht leben können. Die Menschen werden also nach Europa kommen. Es wird entweder clashen oder wir beginnen jetzt, Regelungen zu definieren. Und wir haben bei der Ukraine gemerkt: Wenn wir wollen, können wir alle solidarisch sein. Die Frage ist nur: Wenn jemand kommt, der nicht unsere Hautfarbe hat, der nicht so ausschaut und redet wie wir, der nicht dasselbe Auto fährt wie wir - wie machen wir es dann? Machen wir das von 2015?
Was können wir machen, damit es uns besser geht?
Ich würde nicht auf die Politik warten. Ich würde in meinem eigenen Umkreis, bei mir selber und bei meinem Freundeskreis darauf achten, ob ich Worte verwende, wo ich Leute ausschließe oder ob ich versuche, Verständnis zu haben. Es war Tolstoi, der mal gesagt hat "Wer versteht, der verzeiht". Die Angst vor dem Fremden passiert sehr oft, weil wir das nicht verstehen. Das heißt, was wir alle brauchen, ist Neugierde.
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