"Eine gute Politikerin gibt auch etwas von sich preis"

"Eine gute Politikerin gibt auch etwas von sich preis"
Mireille Ngosso (SPÖ) und Faika El-Nagashi (Grüne) über ihr gemeinsames Buch "Für alle, die hier sind".

"Für alle, die hier sind” heißt das Buch, das Mireille Ngosso und Faika El-Nagashi gemeinsam geschrieben haben und das seit heute erhältlich ist. Erstere ist Ärztin, Land- sowie Gemeinderätin der SPÖ und ehemalige stellvertretende Bezirksvorsteherin der Inneren Stadt. Aufgewachsen ist sie als Tochter einer kongolesischen Flüchtlingsfamilie in Wien. Zweitere ist Nationalratsabgeordnete für die Grünen. Sie stammt aus einer ungarisch-ägyptischen Familie und lebt offen lesbisch.

Im gemeinsamen Werk beschreiben sie - teils sehr persönlich - ihren Werdegang, wieso sie in die Politik gegangen sind und was sie noch verändern möchten.  Das "Manifest für eine solidarische Politik" ist ab 16. Mai erhältlich. KURIER traf die beiden Autorinnen schon vorab zum Gespräch.

KURIER: Das Buch nennt sich ein "Manifest für eine solidarische Politik". Ist die österreichische Politik denn nicht solidarisch? 

Faika El-Nagashi: Ich glaube, dass manche Menschen von der Politik weniger gesehen werden und auch selbst weniger präsent sind in der Politik. Wo sind Menschen mit Biografien wie unserer? Wo sind in der österreichischen Politik die Menschen aus der Roma- und Sinti-Community? Wo sind die Menschen mit Behinderung? Es gibt schon die eine oder andere Person, aber insgesamt spiegelt das Bild immer noch eine sehr weiße Mehrheitsgesellschaft.

Mireille Ngosso: Einer der Gründe, warum ich in die Politik gegangen bin, war, dass die Politik nicht solidarisch ist. Das war damals, im Jahr 2000, als es unter Haider und Schüssel die erste schwarz-blaue Bundesregierung gab. Da habe ich gemerkt, wie Rassismus salonfähig gemacht worden ist  –  allein schon Plakate wie “Daham statt Islam”. Ich habe einfach auch gemerkt, wie ich auf der Straße vermehrt angerempelt und beschimpft worden bin. Ich bin damals protestieren gegangen, weil ich gewusst habe, dass eine Türe aufgemacht worden ist, die sehr schwierig wieder zu schließen ist. Und das spüren wir bis heute. Deshalb gehört einiges getan.

Was gehört denn getan? 

Ngosso: Wir brauchen auf jeden Fall mehr Repräsentation. Es fehlt in der Politik an Menschen mit einer Migrationsbiografie. Wenn ich mir jetzt nur den Wiener Landtag anschaue, ja dann gibt es eine handvoll Menschen mit Migrationsbiografie. Wenn man bedenkt, dass jede dritte Person in Wien eine Migrationsbiografie hat, dann ist es eindeutig zu wenig. Es ist wichtig, Repräsentation auch wirklich zu leben. Und das auf allen Ebenen. 

El-Nagashi: Es muss darüber gesprochen werden. Ich habe den Eindruck, der Diskurs besteht entweder aus Vorurteilen oder Vorwürfen. Und ich möchte nicht über Rassismus sprechen und mit Vorurteilen oder Vorwürfen beginnen. Sondern damit, festzustellen, dass er existiert. Es gibt Rassismus im Alltag, in der Arbeitswelt, in der Ausbildung, in der Schule. Und dadurch, dass die Betroffenen damit oft allein gelassen werden, wissen sie nicht, wie sie sich wehren können. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Man hat den Eindruck, man bildet sich das alles nur ein. Erst wenn es möglich ist, darüber zu sprechen, ist es möglich, auch etwas zu tun und zu verändern. 

"Eine gute Politikerin gibt auch etwas von sich preis"

Woran liegt es, dass so wenige Menschen mit Migrationsbiografie in die Politik gehen?

Ngosso: Ich glaube, und das merke ich auch in den Gesprächen mit vielen jungen Menschen mit Migrationsbiografie, dass sich viele das nicht zutrauen. Ich weiß noch, wie das bei mir war. Es gab nur wenige Vorbilder in der Politik damals. Zu meiner Zeit war das noch Damien Agbogbe von den Grünen. Der war Bezirksrat. Das ist damals wie eine Welle durch die African Community gegangen. Und sowas motiviert natürlich auch andere in die Politik zu gehen. 

El-Nagashi: In meiner Jugend war Politikerin zu sein so weit weg von meiner Lebensrealität. Ich war ungarische Staatsbürgerin, bis ich 17 war. Und wir wissen, dass die Voraussetzungen für die Einbürgerung in Österreich sehr restriktiv gehandhabt werden. Das ist schon mal eine formale Schwierigkeit. Da ist die Frage schon: Habe ich überhaupt Zugang zu bestimmten Bereichen? Dürfte ich überhaupt gewählt werden? Und das andere ist: Fühle ich mich zu Österreich zugehörig? Wird mir das von der österreichischen Politik vermittelt? 

Das Buch ist sehr persönlich. Sie beide geben viel von sich Preis. Ist das vereinbar mit der Rolle einer Politikerin?

Ngosso: Für mich ist eine gute Politikerin eine, die auch etwas von sich preisgibt, wo man auch weiß, wer der Mensch dahinter ist. Deshalb möchte ich wenigstens ein bisschen mitgeben, wofür ich stehe, wer ich bin, woher ich komme und was mich dazu angetrieben hat, in die Politik zu gehen. 

El-Nagashi: Es war auch eine bewusste Entscheidung. Wir wollten transparent sein - auch wenn man dadurch sehr verletzlich wird. Das haben wir in Kauf genommen, weil wir zugänglich sein wollten. 

Nervt es sie, dass Sie aufgrund ihrer Biografie automatisch in identitätspolitische Fragen gedrängt werden?

Ngosso: Als ich damals in die Politik gegangen bin, wollte ich gar nicht über Rassismus oder Diskriminierung reden. Meine Mutter sagte: Mireille, bitte mach das nicht. Du machst dich damit sehr angreifbar. Ich habe mich am Anfang auch daran gehalten. Ich hatte etwa das Thema Gesundheit. Ich bin Ärztin, da ist das natürlich naheliegend. Aber ich muss sagen, ab dem Moment, wo ich zur stellvertretenden Bezirkschefin der Inneren Stadt wurde, hat sich etwas verändert. Es sind viele junge Menschen auf mich zugekommen, haben mir gesagt, dass sie es toll finden, dass ich in dieser Position bin. Ich habe es dann auch als Aufgabe gesehen, über Rassismus und Diskriminierung zu sprechen. Und solange es in der Politik nicht mehr weiße Menschen gibt, die darüber sprechen, solange werde ich noch darüber sprechen.

El-Nagashi: Was wir versuchen, ist immer allgemeiner zu werden. Wir haben alle individuelle Biografien, aber Ziel ist es, das Verbindende zu betonen. Ich möchte nicht steckenbleiben in der Identitätspolitik, aber ich brauche das als Ausgangspunkt dafür, um darüber sprechen zu können. Wenn wir sagen, für alle, die hier sind, dann zur Überwindung der Trennung nach Herkunft, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit. 

Ihr Buch hat etwas geschaffen, dass es derzeit weder in Wien noch auf Bundesebene gibt: Eine rot-grüne Koalition. Wie kam das an?

Ngosso: Wir wollten zeigen, dass obwohl wir nicht in derselben Partei sind, wir trotzdem ganz viele Gemeinsamkeiten haben und dass unsere Ziele parteiübergreifend wichtig sind.

El-Nagashi: Ich selber komme aus Wien, wo ich auch schon in einer rot-grünen Koalition aktiv war. Es gibt immer wieder die Möglichkeit, über Parteigrenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Aktuell passiert das in der Regierung mit der ÖVP. Ich denke nicht unbedingt in Parteigrenzen. Ich finde es gut und bereichernd, wenn man sich damit inhaltlich auseinandersetzen und diskutieren kann und das nicht auf einer Ebene, auf der man sich aus parteipolitischen Überlegungen gegenseitig fast nur beschimpft. 

Wann wird es Ihrer Einschätzung nach die erste Bundeskanzlerin mit nicht klassisch österreichischer Biografie in Österreich geben?

Ngosso: Ich hoffe bald. Ich setze da vor allem auf die nächste Generation. 

El-Nagashi: Ja, schwierig. Wie lange dauert es, bis man Bundeskanzlerin ist? Ich habe natürlich die größte Hochachtung vor allen, die in die Politik gehen, aber besonders natürlich vor Frauen - vor allem vor denen, die aufgrund ihrer Diversität auch noch viel mehr angefeindet werden. Ich kenne das selber. 

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