Kritische Stimmen, die Erdoğan lieber nicht hören will
Eigentlich sollte es nur eine nette Geste sein. Zu Silvester postete Sezen Aksu, eine der bedeutendsten Sängerinnen der Türkei, ein fünf Jahre altes Lied. Wegen der Liedzeile „Grüßt mir die Unwissenden Adam und Eva“ steht die 67-Jährige seit Tagen unter Beschuss regierungsnaher und religiös-konservativer Gruppen – Adam und Eva gelten im Islam als Propheten. Zuletzt meinte sogar Präsident Recep Tayyip Erdoğan, man müsse ihr „die Zunge herausreißen“. Sezen Aksus Namen nannte er zwar nicht, doch die Botschaft war zweifelsohne an sie gerichtet.
Die Causa begann mit der Empörung der Konservativen, mittlerweile steht sie aber stellvertretend für all das, was in der Türkei schiefläuft: die Einschränkung von Freiheit und die Härte, mit der Erdoğan gegen alle kritischen Stimmen vorgeht. Künstler, Journalisten, Politiker, aber auch Studierende, die sich gegen Erdoğan und das autoritäre Regime äußern, werden systematisch verfolgt und eingesperrt. Laut Committee to Protect Journalists (CPJ) ist die Türkei das Land mit den sechstmeisten inhaftierten Journalisten weltweit.
Erst vor wenigen Tagen kam eine weitere Journalistin dazu: Sedef Kabaş wurde am Samstag wegen „Beleidigung des Präsidenten“ in ein Gefängnis in Istanbul gebracht. Sie hatte im Fernsehen Regierung für ihr hartes Durchgreifen gegen Kritiker und die Polarisierung der Gesellschaft kritisiert.
Dem deutschen Welt-Journalisten Deniz Yüzel, der ebenso kritisch über Erdoğans Politik schrieb, muss die Türkei laut Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nun eine Entschädigung von 13.300 Euro zahlen. Er war von Februar 2017 bis Februar 2018 ohne Anklageschrift in einem Hochsicherheitsgefängnis inhaftiert gewesen. Erst nach langem Streit zwischen Ankara und Berlin kam er frei.
Davon ist der 64-jährige Geschäftsmann Osman Kavala weit entfernt. Dieser sitzt seit mehr als vier Jahren ohne Verurteilung in Haft. Ursprünglich wegen des Vorwurfs festgenommen, die gegen die Regierung gerichteten Gezi-Proteste 2013 mitfinanziert zu haben, wurde er im Februar 2020 von diesem freigesprochen. Wenige Stunden später wurde er erneut festgenommen – wegen Spionagevorwürfen in Zusammenhang mit dem Putschversuch gegen Erdoğan 2016.
Im Oktober forderten zehn Staaten, darunter die USA und mehrere europäische Länder, die Freilassung Kavalas. Der Europarat setzte der Türkei eine Frist, Ankara zeigte sich von den angedrohten Sanktionen jedoch unbeeindruckt.
Angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage dürfte das bei der Regierung keine Priorität haben: Seit Monaten kämpft das Land mit Höchstinflation, ausgelöst durch Erdoğans Leitzinspolitik. Auch sein Krisenmanagement wird angezweifelt. Nach Lieferengpässen im Iran, dem Erdgas-Hauptlieferanten der Türkei, kappte der Präsident der Industrie kurzerhand für drei Tage Strom und Gas. Wer dennoch Gas bezieht, dem drohen strafrechtliche Konsequenzen.
"Ich werde weiterschreiben"
Die Bevölkerung lässt sich indes immer weniger gefallen. Mehr als 200 Künstler und Intellektuelle haben sich jetzt per offenem Brief hinter Sezen Aksu gestellt. Sie versicherte auf Facebook: „Ich werde weiterschreiben.“
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