Fluchtexpertin: “Wesentlich, dass Österreich sich vorbereitet”
Seit Tagen zeichnete er sich ab. In den frühen Stunden von Donnerstag wurde der Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine zur Realität. Bilder von kilometerlangen Autostaus haben wohl mittlerweile ganz Europa erreicht. Flucht ist für viele in der Ukraine der erste Instinkt und auch wohl einzige Möglichkeit sich in Sicherheit zu bringen. Wie viele Menschen davon betroffen sind? Wo diese hingehen und welche Rolle dabei auch Österreich spielt, erklärt Migrationsexpertin und Fluchtforscherin Judith Kohlenberger. Sehen Sie hier das gesamte Interview als Video:
KURIER: Die lang befürchtete Eskalation ist eingetreten. Zahlreiche Menschen machen sich schon auf die Flucht. Wie viele werden betroffen sein?
Judith Kohlenberger: Es gibt zurzeit unterschiedliche Schätzungen. Die USA sprechen von bis zu fünf Millionen Flüchtlingen, mit denen zu rechnen sei. Die EU ist etwas konservativer und rechnet mit etwa einer Million Menschen. Zurzeit sehen wir noch keine großen, vor allem keine transnationalen Fluchtbewegungen. Aber Menschen fliehen bereits aus den betroffenen Gebieten in sicherere Regionen der Ukraine. Fluchtbewegungen laufen häufig so ab, dass Menschen zuerst versuchen, im Land und in der Nähe ihres Heimatorts zu bleiben.
Und dann kommt die Flucht über die nationalen Grenzen?
Polen wird wohl als erstes und am stärksten betroffen sein wird. Denn es hat die meisten Grenzübergänge zur Ukraine - zwölf an der Zahl. Anders als bei Flucht aus Syrien oder Afghanistan können Menschen aus der Ukraine visafrei in die EU reisen. Polen hat schon angekündigt, dass es sich solidarisch zeigen wird. Dennoch hat das Land bisher wenig Erfahrung und kaum Strukturen für die Aufnahme von Schutzsuchenden, die Stimmung ist migrationsskeptisch. Bei den gestrandeten Menschen an der belarussisch-polnischen Grenze hat sich Polen überhaupt nicht aufnahmebereit gezeigt. Im Gegenteil, man hat die Lage bewusst eskalieren lassen. Im Fall der Ukraine hoffe ich, dass die Art und Weise der Aufnahme solidarischer und humaner ablaufen wird.
Warum glauben sie, dass es diesmal anders sein wird?
Weil es schon entsprechende Signale von der polnischen Regierung gab. Und natürlich ist der Druck aus dem Land selber, aber auch aus der gesamten EU wesentlich größer. Die Ukraine ist ein unmittelbares Nachbarland. Und vor allem darf man nicht vergessen: In Polen lebt bereits eine große ukrainische Community. Sogenannte Community-Effekte sind in der Fluchtforschung gut belegt: Geflüchtete gehen eher in Länder, in denen schon Landsmänner und -frauen leben.
Bundeskanzler Karl Nehammer hat auch schon erklärt, dass man Flüchtlinge aufnehmen werde, aber dass Österreich wohl nicht so stark betroffen sein werde.
Grundsätzlich teile ich die Einschätzung von Bundeskanzler Nehammer, dass Österreich nicht am stärksten betroffen sein wird. Wie gesagt: Die Fluchtbewegungen werden zuerst einmal innerhalb des Landes erfolgen, dann in die Nachbarländer. Und die Dimensionen, mit denen wir es jetzt zu tun haben, sind gänzlich andere sind als im Jahr 2015. Dennoch wäre es wesentlich, dass Österreich vorbereitet ist, sollte es zur Ankunft von mehreren tausend Menschen kommen.
Ist Österreich derzeit vorbereitet?
In den letzten Wochen und Monaten wurde immer wieder publik, dass Erstaufnahmezentren gut ausgelastet seien. Das liegt nicht daran, dass wir plötzlich so viele Ankünfte aus Afrika oder dem Mittleren Osten hätten, sondern weil Erstaufnahmezentren und Asyleinrichtungen wieder zurückgefahren wurden. Hier könnte man aber rasch wieder Kapazitäten aufstocken. Und dann ist es natürlich auch von zentraler Bedeutung, dass man Ankommenden Helfer zur Verfügung stellt, die sich um sie kümmern. Zudem sind schnellere Aufnahmeverfahren anzudenken. Schließlich wurde in der Ukraine das Kriegsrecht ausgerufen, bei den Ankommenden handelt es sich also um Kriegsvertriebene.
Hat man aus 2015 Lehren gezogen?
Zum einen spricht man heute wesentlich öfter von konkreten Vorbereitungen als damals. 2015 hat man Warnungen von Experten ignoriert, solange bis man sie nicht mehr ignorieren konnte, weil die Menschen schon an der ungarisch-österreichischen Grenze standen. Und dann waren natürlich keine Strukturen vorhanden. Dann gab es Bilder vom Westbahnhof und Hauptbahnhof, von Menschen, die zu Fuß auf der Autobahn nach Wien wanderten. Ich hoffe, daraus hat man gelernt. In weiterer Folge hat Österreich bessere Strukturen und Rahmenbedingungen geschaffen, was die Integration betrifft, etwa in Form eines Integrationsgesetzes. Österreich war immer schon ein Aufnahmeland von Flüchtlingen. Somit muss auch gesetzlich festgehalten werden, was Ankommende erwarten können, was sie einbringen müssen oder dürfen. Ein weiteres Learning aus 2015 sollte sein, dass die staatliche Verwaltung mehr mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeitet und sie nicht wie damals großteils alleine lässt.
Bei Flüchtlingen aus der Ukraine scheint es viel selbstverständlicher zu sein, Hilfe zu leisten als etwa bei Flüchtlingen aus Afghanistan.
Das hat unterschiedliche Gründe. Die Ukraine liegt uns rein geografisch, auch kulturell näher als Syrien oder Afghanistan. Das ist ein valider Punkt. Dennoch würde ich aus der Sicht einer Fluchtforscherin davor warnen, jetzt eine Gruppe von Schutzsuchenden gegen eine andere auszuspielen. Beim Asylrecht geht es nicht um kulturelle oder geografische Nähe. Da geht es um ein verbrieftes Recht, das in der Genfer Flüchtlingskonvention festgehalten wird. Und das gilt unabhängig davon, woher ein Mensch kommt.
Und die Geschichte hat uns auch gelehrt: Nur weil es sich bei Ankommenden um Menschen handelt, die den gleichen Glauben oder Kultur haben, heißt das nicht, dass es nicht auch gegen diese vermeintlichen Nachbarn Fremdenfeindlichkeit und Hetze geben kann. Da müssen wir gar nicht weit zurückgehen. Ich denke an den Ungarn-Aufstand in den 1950er Jahren oder auch an Fluchtbewegungen aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Österreich ist leider durch einen sehr defizitorientierten Integrationsdiskurs geprägt.
Gibt es für sie sonst noch einen wichtigen Punkt?
Auch in Russland leben Ukrainer. Wir wissen nicht genau, wie sich die russische Regierung gegenüber diesen verhalten wird. Auch sie könnten von Flucht betroffen sein. Und die Ukraine hat zwar nicht viele, aber doch einige tausende afghanische, belarussische, iranische Geflüchtete aufgenommen, die jetzt von einer erneuten Vertreibung betroffen sein könnten. Hier muss Solidarität unteilbar bleiben, sodass EU-Staaten auch Menschen, die erneut flüchten müssen, Schutz bieten.
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